Cornelia Rühlig: Wir kennen heute viele Details über das Walldorfer Lager. Doch was bedeutet dieses Wissen für uns heute?
Rudi Hechler, viele Jahre Fraktionsvorsitzender der DKP im Stadtparlament von Mörfelden-Walldorf, sagte: Vera Dotan, eine Überlebende des Walldorfer Lagers, saß vor ca. zehn Jahren bei uns am Kaffeetisch. Meine Enkelin kam hinzu, und Vera sagte zu ihr in ihrer leisen rauen Stimme: „Wie alt bist du?“ “Dreizehn,” sagte unsere Kleine. Und Vera: „Ich war auch 13.“ Vera erinnert sich noch genau an den Tag der Ankunft. Drei Tage im Viehwaggon von Auschwitz nach Walldorf. Der Gaskammer zunächst entronnen,war ihnen ein anderes Ende zugedacht: Tod durch Arbeit. “Ich war 13,” — sagte Vera. Wir die Nachgeborenen sollten uns vorstellen, es wären unsere Kinder und unsere Enkelkinder, denen so etwas geschieht.… und - wir sollten nicht kalt und sprachlos werden bei den Bildern, die wir heute im Fernsehen betrachten. Im April 1945 sagten Überlebende im „Schwur der Häftlinge von Buchenwald“: „Die Vernichtung des Nazismus mit seinen Wurzeln ist unsere Losung. Der Aufbau einer neuen Welt des Friedens und der Freiheit ist unser Ziel.“ Unser Ziel muss es bleiben.
Kirsten Hartmann, Schülerin der Ricarda-Huch-Schule, beschäftigte sich intensiv mit dem Walldorfer Lager: Als ich das erste Mal im Rahmen eines Schulprojektes von dem Lager in Walldorf erfuhr, war ich geschockt. Geschockt über die Dinge, die dort passiert sind, und geschockt über den Fakt, dass ich bis jetzt nichts davon gehört hatte, obwohl ich doch nur um die Ecke wohne. Mein Alltag ist normalerweise: vor allem voller Stress in der Schule während der Klausurenphase, Streit mit Freunden, mit den Eltern. Oft fühle ich mich damit schon überfordert. Wenn ich ehrlich zu mir bin, muss ich sagen, ich kann mir kaum vorstellen, wie es für die Mädchen damals gewesen sein muss, in ein Arbeitslager gesteckt und dort Tag für Tag schrecklich gedemütigt zu werden! Aber dann auch noch zu hören, dass diese Frauen zudem miterleben mussten, wie all das nach 1945 quasi unter den Tisch gekehrt wurde, das macht mich schon unglaublich wütend! Ich frage mich, wie sich wohl die Opfer fühlen müssen? Bei all dem, was wir durch das Projekt erfahren haben, war für mich das beeindruckendste die Offenheit und die Freundlichkeit, mit der die Überlebenden die Schülerinnen und Schüler empfingen! Ganz ohne Hass oder Verschlossenheit, öffneten sie sich, um ihnen und damit uns zu erzählen! Egal wie sehr sich mein Leben von dem der Insassinnen unterscheidet, ich durfte einen Teil ihrer persönlichen Geschichte erfahren und kann aus vollstem Herzen sagen, ich empfinde einfach großen Respekt vor diesen starken Frauen!”
Helga Dusse, Mitarbeiterin der Arbeitsgemeinschaft für Walldorfer Geschichte und vielfältig in Gremien der reformierten Kirche engagiert, sagte: Ich bin Walldorferin mit waldensischer Herkunft. Waldenser gehörten im Mittelalter zu den Ketzern, die öffentlich verbrannt wurden. Wegen ihres Glaubens verfolgt, flüchteten sie vor 300 Jahren u.a. nach Hessen und gründeten 1699 Walldorf. Zu wissen, dass 1944 1.700 völlig unschuldige junge jüdische Ungarinnen hier im Wald – nur wenige hundert Meter von meinem Elternhaus entfernt – brutal behandelt und z.T. ermordet wurden, tut weh. “Wann fangen wir an, daraus zu lernen?” – Aus der Geschichte der Waldenser, aus der Geschichte der jüdischen Verfolgung, aus der Diskriminierung der Schwarzen, die ich z.B. in Südafrika miterlebt habe, wo ich im Auftrag der Evang. Kirche in Deutschland und des Reformierten Bundes mit einer Delegation viele Gespräche in Gemeinden, Universitäten, Kliniken sowie Gewerkschaften führen konnte. Doch in Südafrika habe ich auch erlebt, was es bedeutet, Leid zu ertragen und dennoch zu hoffen. Es hat mich tief beeindruckt, zu sehen, wie die Schwarzen dort unter primitivsten Bedingungen lebten und dennoch immer wieder Kraft schöpfen konnten, um schließlich eine friedliche gesellschaftliche Veränderung herbeizuführen. Dabei ist mir klar geworden: Eine menschliche Gesellschaft ist nicht möglich ohne diese Hoffnung und ohne eine unermüdliche Arbeit an der Basis. Aus dem Schrecklichen, das unseren waldensischen Vorfahren widerfahren ist, aus dem Schrecklichen, das hier im Wald in Walldorf geschah, gibt es für mich nur die Konsequenz, sich immer dort zu engagieren, wo Ungerechtigkeit geschieht und Minderheiten diskriminiert werden. Und dazu gehört stets auch eine gute und menschliche Erziehung und Bildung unserer Kinder.
Celine Freudenthal, Schülerin der Ricarda-Huch-Schule, sagte: Für mich ist eine solche Gedenkstätte eines ehemaligen Konzentrationslagers ein bedeutender Teil der Geschichte, der mir diese auf einem anderen Weg vermittelt. Ich bin dafür dankbar, dass es solche realen Lernorte wie diese Gedenkstätte gibt, um Geschichte zu erfahren. Unsere Gruppe konnte vor Ort auf Spurensuche gehen, ich konnte mich besser in die Situation der jungen Frauen hineinversetzen und es bleibt mir stärker im Gedächtnis. Ich denke die Erinnerung daran ist wichtig und sollte weitergetragen werden durch uns alle.
Günter Völker, ein ständiger Ratgeber und Förderer unserer Ausgrabungsprojekte: Wenn die jungen Leute hier den Keller unter der Küchenbaracke ausgraben, komme ich immer hierher. Das ist doch normal, dass man da hingeht. Wir wissen doch, was hier passiert ist. Und wenn Unrecht aufgedeckt und öffentlich gemacht wird, dann macht man da mit. Das muss einfach so sein. Natürlich weiß ich auch, dass das in meiner Generation nicht jeder macht. Ich bin 1938 geboren. Ich habe die Nazizeit als kleiner Bub noch mitgemacht. Aber mein Vater war 1933 im KZ Osthofen und später noch in Butzbach im Gefängnis. Der war politisch verfolgt. Das Elternhaus macht viel aus. Auch wenn ich erst 17 Jahre alt war, wie mein Vater gestorben ist. Das sind bei mir noch immer die alten Spuren. Er ist ein bisschen ein Vorbild für mich. Was der alles gemacht hat; da kann ich ja gar nicht mithalten.
Amila spielt auf der Klarinette in Erinnerung an die politisch Verfolgten der NS-Zeit: „Wir sind die Moorsoldaten …“
Vanessa Hillabrand, Schülerin der Ricarda-Huch-Schule, sagt: Als ich 11 Jahre alt war, habe ich bei meiner Uroma im Fernsehen zufällig eine Dokumentation über das Dritte Reich gesehen. Ich weiß noch genau, wie bedrohlich ich die Bilder empfunden habe und dass ich wissen wollte, was es damit auf sich hat. Später hat mir der Schulunterricht geholfen, viele Wissenslücken nach und nach zu schließen; auch privat habe ich mich weiter viel mit dem Thema beschäftigt. Aber schließlich war es unser Schulprojekt in Mörfelden-Walldorf, das das Grauen dieser Zeit auf eine ganz neue Ebene gehoben hat. Durch dieses Projekt war der Holocaust für mich plötzlich ganz nah. Theoretisch war mir klar gewesen, dass der Holocaust in ganz Deutschland, also auch in meiner Heimat, stattgefunden hatte. Dass aber eine KZ Außenstelle plötzlich so nah und sogar greifbar war, hat mich kalt erwischt. Die Erkenntnisse aus dem Seminar am ehemaligen Außenlager in Mörfelden-Walldorf haben mich mehr betroffen als es Dokumentationen über Auschwitz je vermocht hatten. Auch die Tatsache, dass der Flughafen teilweise unter Mitwirkung von Häftlingen des Konzentrationslagers erbaut worden war, hat mich sehr betroffen gemacht. Diese Erkenntnisse und Informationen haben mein Verständnis in Bezug auf unser ganzes gesellschaftliches Zusammenleben verändert. Als eine dadurch sensibilisierte Bürgerin der Bundesrepublik Deutschland kann und will ich im Rahmen meiner Möglichkeiten eingreifen, sobald ich merke, dass sich die Politik in gefährliche Sphären verläuft. Dies ist eine wichtige Kontrollfunktion unserer Demokratie, für die jeder Einzelne von uns direkt verantwortlich ist. Und diese Verantwortung fängt bei mir an.”
Anneliese Krichbaum, Vorsitzende des Heimat– und Museumsvereins Mörfelden, sagt: Wir sind gegen jede Art von Vorurteilen und Hassparolen. Diese zerstören nicht nur „die Anderen“, sondern ebenso auch unser eigenes Leben und unsere eigenen Grundwerte. Aufklärung findet ihre Basis niemals ausschließlich in einzelnen Religionen, Völkern oder Nationen. Nur religions-, völker– und nationenübergreifend besteht Hoffnung, dass Aufklärung tatsächlich wirken kann … Ein friedliches Miteinander aller Menschen kann nur gelingen, wenn wir gegenseitig unsere Unterschiedlichkeiten nicht nur tolerieren, sondern auch achten und wertschätzen.
Amila spielt auf der Klarinette “Evening in the village” von Béla Bartók.
Nun verlassen alle den dichteren Wald und gehen nach vorne zur Ausgrabungsstelle des ehemaligen Kellers unter der Küchenbaracke.
Vier Frankfurter StudentInnen der Politikwissenschaft haben sich intensiv mit der Geschichte der KZ Außenstelle beschäftigt und aus vier eigenen Texten auszugsweise eine Gesamtcollage entwickelt: Aynur Caglar, Max Hennig, Vera Neugebauer und Tim Rühlig.
Aynur Cagla: Als ich zum ersten Mal zur KZ-Außenstelle kam, beschlich mich ein bedrückendes Gefühl: Hoffnung scheint endlos, doch was, wenn der Schein trügt?! Die Mörder von unzähligen Hoffnungen sind nicht Fremde, sondern wir, die Menschen, die nicht davor zurückschrecken barbarisch zu handeln. Gibt es Menschlichkeit, wenn wir zu solchen Gräueln fähig sind?
Vera Neugebauer: Ja, auch ich verschließe oft die Augen vor dem Elend der Welt und ich weiß: es ist falsch. Ich weiß, dass es nicht richtig ist, nicht zuzuhören, wenn ich von Unrecht höre; doch ich ignoriere – warum?
Tim Rühlig: Der Psychoanalytiker Arno Gruen schreibt: „Wir sehen durch abstrakte Ideen. Und das ändert, was wir sehen, wie wir es sehen. Wir verlieren Zugang zu dem, was empathisch wahrgenommen wird. Das aber sind die Gefühle.“ Als ich das las, spürte ich: Ich will meinen Gefühlen vertrauen, in mich hineinhorchen. Denn sonst entfremde ich mich – von mir, von meiner Umwelt, von dem, was das Leben einzigartig macht.
Max Hennig: Die Menschen, die während der NS-Zeit in Deutschland lebten, handelten verantwortungslos. Wir müssen versuchen zu ergründen, warum sie das taten. Immer wieder heißt es, Freiheit und Verantwortung gehörten zusammen. Aber ich meine, das greift zu kurz. Denn wir müssen uns fragen: Warum ließen sie sich ihre Freiheit nehmen, anders zu handeln? Ich denke, darum muss es uns gehen, wenn wir etwas für uns lernen wollen.
Tim Rühlig: „Wer bin ich?“ Nur die ehrliche und beständige Konfrontation mit mir selbst lässt mich Schmerz, aber auch Freude wahrnehmen. Und gerade an diesem Ort spüre ich, wie viel Gemeinsamkeit in Freude und Schmerz steckt: Hier habe ich wunderbare, engagierte Menschen kennengelernt, mit ihnen gelacht und geweint. Ich glaube, aus all diesen Erfahrungen ist eine Gemeinschaft entstanden, die die Überlebenden der KZ-Außenstelle und ihre Kinder und Enkel genauso einschließt wie uns Deutsche, die wir uns hier lokal engagieren, und junge Menschen aus aller Welt. Diese vielfältige Gemeinsamkeit gibt Optimismus und Energie, denn sie lebt aus dem aufrichtigem Wunsch zu lernen und miteinander zu fühlen.
Vera Neugebauer: Dieser Ort hier im Wald berührt mich, lässt mich empfinden, weil ich von den Schicksalen einzelner Menschen höre. Ich empfinde wieder. Und nur so kann ich auch etwas verändern. Die Mainzer Studentin
Claudia Köhler nahm bereits als 17-jährige Schülerin (2005) an einem unserer international work and study camps teil. Wenige Jahre später war sie eine unserer Teamerinnen für ein weiteres Camp. Derzeit schreibt sie ihre Staatsexamensarbeit über die Geschichte dieses Lagers.
Es ist schwer, die richtigen Worte zu finden, wenn ich anderen Menschen über dieses Lager erzähle. Es ist so Vieles, was dabei gleichzeitig in mir steckt. Ich spreche natürlich von den 1700 Frauen aus Ungarn, die am Frankfurter Flughafen arbeiten mussten. Ich erzähle, wie schlimm der Hunger und die Kälte für die Frauen war, die Angst vor der Willkür der SS, die Ungewissheit über das Schicksal der eigenen Familie… Gleichzeitig ist dieses Lager aber nicht nur ein Ort, an dem ich immer wieder von Neuem eine furchtbare Wut entwickle angesichts dessen, was hier geschah. Dies ist für mich zugleich ein Ort, an dem ich andere Schüler und Studenten so ganz anders kennenlernte als in der Uni oder im Urlaub. Als ich zum ersten Mal mit 17 Jahren hier drei Wochen verbrachte um den Küchenkeller freizulegen, war es sonderbar für mich, an einem Ort des Schreckens gleichzeitig Freude zu empfinden. Freude darüber, gerade durch und mit dieser Arbeit besonders tiefe Freundschaften entwickeln zu können. Wir haben damals viel zusammen geweint und wir haben zusammen gelacht. Es hat lange gedauert, bis ich mit dieser Gleichzeitigkeit umgehen konnte. Dies hat Vieles in mir aufgewühlt; heute weiß ich ihn umso mehr zu schätzen. Ich habe viel daraus gelernt. Heute sage ich, ich habe noch immer Wut und auch Ohnmacht in mir wegen all dem, was hier geschehen ist. Zugleich aber kann ich sagen: Ich komme sehr gerne gerade hierher nach Walldorf. Denn hier erlebe ich immer wieder, wie viele ganz unterschiedliche Menschen immer wieder hier zusammen kommen — ob die Stadtverwaltung, die Stiftung, Fraport oder die ijgd, engagierte Einzelne oder ganze Gruppen – die zahllosen großen und kleinen Hilfen, angefangen von leckeren Kuchen bis hin zur Geldspende – sie machen diesen Ort für mich zu einem Beispiel dafür, dass Menschen Verantwortung übernehmen und sich mit ihrer eigenen Geschichte gemeinsam auseinandersetzen. Ich bin sehr froh, diesen besonderen Ort hier kennengelernt zu haben, mit meinen eigenen Händen hier mit ausgegraben zu haben. Dass dies möglich war, dafür möchte ich mich heute von ganzem Herzen bei Ihnen bedanken!
Herbert J. Oswald (“Jossy”) spricht im Namen der drei Jugendlichen, die 1972 das Walldorfer Lager wiederentdeckten. Als wir, Alfred J. Arndt, Gerd Schulmeyer und ich — während einer Jugenddelegation der Deutschen Kommunistischen Partei (DKP) — vor über 40 Jahren vor der großen Lagerkarte im ehemaligen KZ Buchenwald standen und darauf “Walldorf” entdeckten, wunderten wir uns. Es war für uns schnell klar, dass wir die Geschichte dieses Lagers aufdecken, erforschen und den Opfern einen Gedenkstein als sichtbares Zeichen gegen den Faschismus setzen wollten. Das war damals nicht einfach und auch nicht ohne Hindernisse und Kosten. Doch wir konnten nachweisen: Die kompletten Lagerlisten der Häftlinge, die der Selektion von Dr. Mengele in Auschwitz-Birkenau entkamen, die täglichen Krankenstände und Arbeitsscheine, die Profiteure der Firma Züblin und die Nutznießer, der Flughafen Frankfurt, der damals eingebettet war in die Kriegsmaschinerie jener Zeit. Wir fanden die Gräber der Toten in Offenbach auf dem Friedhof und wir trafen Überlebende aus Ungarn und Israel. Wir veröffentlichten die Ergebnisse in unserer Broschüre “Spuren des Terrors” . Die Kommunisten Peter Passet und Peter Gingold kamen darin genauso zu Wort, wie der Schriftsteller Peter Härtling aus Walldorf. 1980 wurde, auf Antrag der DKP, ein Gedenkstein hier am ehemaligen KZ-Außenlager Walldorf durch den Bürgermeister eingeweiht. Seither sind fast 35 Jahre vergangen; die Forschungen gingen weiter. Heute wird ein weiterer wichtiger Gedenkort geschaffen. Nie hätten wir gedacht, dass hier einmal ein historischer Lehrpfad, hunderte Führungen, dutzende Ausgrabungen, internationale Workshops, der Film “Die Rollbahn”, Homepages, die Margit-Horváth-Stiftung und vieles mehr entstehen würde — und alles immer wieder unter der Mitwirkung junger Menschen. Dies ist eine hoffnungsvolle Entwicklung, über die wir sehr froh sind. 70 Jahre nach der Existenz dieses grauenvollen Lagers wird jetzt auf dem ehemaligen Küchen– und Folterkeller eine Gedenkstätte und zugleich ein Seminarraum entstehen. Das ist eine weitere Ehrung der Opfer jener Zeit und mahnt uns: “Der Schoß ist fruchtbar noch aus dem das kroch!” (Bert Brecht) - Wir werden wachsam bleiben!
Klara Strompf, ungarische Jüdin, die inzwischen schon fast 30 Jahre in Walldorf lebt — ungewollt in der Nähe der ehem. KZ Außenstelle Walldorf, in der eine ihrer Freundinnen, Margit Horváth, 1944 inhaftiert war. Ich bin mit meiner Familie am 15. November 1985 aus Ungarn nach Walldorf gekommen, um einen Job bei einer 5* Hotelkette für einige Jahre anzutreten. Mein Vater wollte aufgrund unserer Familiengeschichte nicht, dass ich nach Deutschland gehe. Er hat uns dann 2 Jahre später für immer verlassen. Ich konnte das und vieles andere seelisch überhaupt nicht verarbeiten und ein Jahr später wurde ich fast unheilbar krank. Das dauerte wieder einige Jahre. Dazu kam noch, dass ich durch Gábor Goldman und seine Mutter Margit Horváth erfuhr, dass wenige 100 Meter von mir 1944 ein KZ stand, in dem 1.700 ungarisch-jüdische Frauen inhaftiert waren. Ich sah zwei Wege vor mir und dachte: Entweder muss ich sterben oder aber nicht so einfach aufgeben, sondern mich durch dieses Projekt auch mit meiner eigenen Vergangenheit auseinandersetzen. Sicherlich habe ich hier noch eine bestimmte Aufgabe zu erledigen! So wurden meine Wege durch die “dunkle Geschichte” per Zufall mit Cornelia Rühligs Wegen zusammengeführt. Zwei Frauen im ähnlichen Alter, aber mit völlig verschiedenen Familiengeschichten und ganz anderem historischen Hintergrund — trotzdem hat es geklappt. Ich musste einen sehr langen Weg gehen, um zu der “Brückenbauerin” zu werden, die ich heute bin. Diesen Weg musste ich zwar alleine gehen, aber viele Menschen aus Walldorf haben dabei eine sehr große Rolle gespielt. Wir haben gelernt, wie man Berührungsängste gegenseitig abbauen kann. Langsam, langsam wurde ich auch von vielen anderen lieben Menschen, aber auch den Repräsentanten der Stadt Mörfelden-Walldorf und Frankfurt oder der Fraport AG überzeugt, dass es sich lohnt, jede Menge Energie und Emotionen zu investieren, um Juden und Deutsche — auch jüdische Deutsche, jüdische und nichtjüdische Ungarn, Nachkommen von Tätern und Opfern, an einen gemeinsamen Tisch zu Gesprächen zusammenzubringen. Ich habe auf diesem Weg gelernt, dass zur Heilung der Seelenwunden das Aussprechen der in unserem Kopf und Herz zurückgedrängten Gedanken für die erste (die überlebende), aber auch für die zweite und dritte Generation auf beiden Seiten (Sie und mich inbegriffen) eine große Hilfe sein kann … für alle also, die bereit sind, Gespräche mit anderen Menschen zu beginnen. Heute weiß ich, dass dies der einzige Weg ist, dass wir unsere schmerzhafte gemeinsame Geschichte im Interesse einer gegenseitigen nachhaltigen mentalen Gesundheit aufarbeiten müssen. Da führt kein anderer Weg daran vorbei.
Und übrigens: Inzwischen bin ich deutsche Staatsbürgerin geworden. Das hätte ich 1985, als ich hierher kam, niemals gedacht.
Klicken Sie hier, um zu Seite 1 oder Seite 3 oder Seite 4 zu gelangen.