Warum wählen so viele Leute die AfD?

Das Podi­ums­ge­spräch mit Prof. Leg­ge­wie im Mör­fel­der Museum. Ulrike Hol­ler beginnt mit Fra­gen zur Geschichte der AfD und unter­schied­li­chen inhalt­li­chen Positionen.
Am 30. Novem­ber 2018 dis­ku­tie­ren im Mör­fel­der Museum Prof. Claus Leg­ge­wie und Oberstufenschüler*innen — unter der Mode­ra­tion von Ulrike Holler.

Claus Leg­ge­wie ist Pro­fes­sor für Poli­tik– und Kul­tur­wis­sen­schaft­ler, Mir­be­grün­der und Direk­tor des Zen­trums für Medien und Inter­ak­ti­vi­tät von 2001 — 2007 — mit For­schungs­auf­ent­hal­tenn und Gast­pro­fes­su­ren in Ber­lin, Wien, Paris, New York.  Von 2007 bis August 2017 lei­tete er das Kul­tur­wis­sen­schaft­li­che Insti­tut Essen (KWI). Zum Win­ter­se­mes­ter 2015/16 wurde er vom Prä­si­den­ten der Justus-Liebig-Universität als ers­ter Amts­in­ha­ber auf die Lud­wig Börne-Professur beru­fen. Seine For­schungs­schwer­punkte sind viel­fach inter­kul­tu­relle Fra­gen wie z.B.: Vor­aus­set­zun­gen und Fol­gen der kul­tu­rel­len und reli­giö­sen Glo­ba­li­sie­rung, euro­päi­sche Erin­ne­rungs­kon­flikte und Geschichts­po­li­ti­ken, Demo­kra­ti­sie­rung nicht­west­li­cher Gesell­schaf­ten etc.

Navid Ker­mani schrieb über ihn: “Claus Leg­ge­wie behan­delte 1990 die mul­ti­kul­tu­relle gesell­schaft nicht als etwas, das man ablehnt oder befür­wor­tet, begrüßt oder ver­ab­schie­det, son­dern als eine Wirk­lich­keit, die in ihrer Viel­falt zu beschrei­ben, zu ana­ly­sie­ren und zu gestal­ten ist.”

Sein Enga­ge­ment, sein pro­fun­des Wis­sen, seine hohe rhe­to­ri­sche Fähig­keit — das Publi­kum, das in Scha­ren gekom­men war, ist hoch­kon­zen­triert und dank­bar, einen solch bril­lan­ten Abend erle­ben zu dürfen.

Leg­ge­wie beschreibt zu Beginn des Podi­ums­ge­sprä­ches die Ent­wick­lung der AfD von der europa– und euro­kri­ti­schen Anfangs­phase bis hin zu rechts­po­pu­lis­ti­schen und auch rechts­ex­tre­men Positionen:

“Im Wech­sel der Par­tei­spitze von dem Wirt­schafts­pro­fes­sor Bernd Lucke über Frauke Petry zu Alex­an­der Gau­land und mit dem wach­sen­den Ein­fluss völkisch-autoritärer Poli­ti­ker wie Björn Höcke und der außer­par­la­men­ta­ri­schen Pegida-Bewegung ver­la­gerte sich der Schwer­punkt im Ver­lauf der „Flücht­lings­krise“ auf den Wider­stand gegen Immi­gra­tion v.a. ara­bisch­stäm­mi­ger und afri­ka­ni­scher Flücht­linge und gegen den Islam. Die AfD möchte die Auf­ar­bei­tung der NS-Vergangenheit und die angeb­li­che „Umvol­kung“ Euro­pas been­den. Ihr Schwer­punkt hat sich so von wirt­schafts­li­be­ra­len zu ethno-nationalistischen Posi­tio­nen ver­scho­ben; „popu­lis­tisch“ bleibt die Mobi­li­sie­rung gegen poli­ti­sche, mediale und intel­lek­tu­elle Eliten.”

Jen­ni­fer und Nata­scha stell­ten Fra­gen zu Unter­schie­den und Ver­gleich­bar­kei­ten des Auf­stie­ges der NSDAP in der Wei­ma­rer Repu­blik und heute. Leg­ge­wie zog gewisse Par­al­le­len zwi­schen 1928/30 und heute.

Zahl­rei­che Oberstufenschüler*innen der Ricarda-Huch-Schule Drei­eich, der Bertha-von-Suttner-Schule Mörfelden-Walldorf und der Dreieich-Schule Lan­gen berei­te­ten sich inhalt­lich auf das Podi­ums­ge­spräch mit ihm vor.

Leg­ge­wie sagt zur Frage der Schüler*innen wohin dies füh­ren kann: “Wo die Rechte erfolg­reich bei Wah­len ist, kann dies zu einer Domi­nanz ihrer The­men in den Medien und die Regie­rungs­bil­dung bzw. –fähig­keit erschwe­ren, auch zur Ein­be­zie­hung in Koali­tio­nen füh­ren, die das poli­ti­sche Spek­trum nach rechts ver­schie­ben. Wo die Rechte die Regie­rung stellt, kommt es zur Auf­he­bung von Bür­ger­rech­ten und zur Zer­stö­rung der Gewal­ten­tei­lung, bei Wider­stand dage­gen auch zu Staats­strei­chen und Bür­ger­krie­gen und zu Span­nun­gen in der inter­na­tio­na­len Politik.” 

Prof. Leg­ge­wie beim Beant­wor­ten der Frage einer Schü­le­rin der Bertha-von-Suttner-Schule.
Wie umge­hen mit Käst­chen und Schub­la­den, in die man gesteckt wird? fragt sie. — Auf jeden Fall: per­sön­lich nicht so ernst neh­men. Es gibt so viele Schub­la­den, in die wir alle stän­dig gesteckt wer­den könnten …

Zur Frage der Oberstufenschüler*innen, was man denn dage­gen tun könne, betont Leg­ge­wie als ers­tes, dass er — trotz der rea­len Gefah­ren, die er sehr wohl sehe, gewiss kein Fata­list sein. Doch man dürfe sich the­ma­tisch nicht mehr von der AfD beherr­schen las­sen, müse end­lich wie­der zu den wirk­lich bedeut­sa­men The­men wech­seln wie z.B. Kli­ma­schutz, sozia­ler Woh­nungs­bau, Besei­ti­gung des Stadt-Land-Gefälles, Ver­tie­fung der euro­päi­schen Union … Die Mobi­li­sie­rung, das Enga­ge­ment der Demo­kra­ten sei jetzt gefragt: Infor­ma­tion und akti­ves poli­ti­sches Enga­ge­ment in Par­teien, Gewerk­schaf­ten, Bürgerinitiativen!

Leg­ge­wies neu­es­tes Buch heißt: “Europa zuerst! Eine Unab­häng­g­keits­er­klä­rung.”  Darin schreibt er: In der heu­ti­gen poli­ti­schen Debatte spielt der euro­päi­sche Rechts­po­pu­lis­mus mit frem­den­feind­li­chen Paro­len eine viel zu große Rolle. Doch längst haben starke Gegen­be­we­gun­gen gebil­det, die sich ein frei­heit­li­ches, welt­of­fe­nes, gerech­tes Europa nicht neh­men las­sen wollen …”

Mit genauem Blick beschreibt und ana­ly­siert Claus Leg­ge­wie, einer der wich­tigs­ten Poli­to­lo­gen Deutsch­lands, ver­schie­dene pro­eu­ro­päi­sche Basis­be­we­gun­gen und Netz­werke in ver­schie­de­nen Län­dern des Kon­ti­nents: neue Par­teien, Ver­ei­ni­gun­gen , NGOs. Er macht deut­lich, warum sie die wah­ren Euro­päer sind, wie sie euro­pa­feind­li­chen Strö­mun­gen ent­ge­gen­tre­ten, aber auch, wie man den Still­stand der euro­päi­schen Insti­tu­tio­nen über­win­den kann. Leg­ge­wie macht Hoff­nung: Das Europa der Zukunft ist basis­de­mo­kra­tisch, kos­mo­po­li­tisch, bür­ger­nah und sozial gerecht.

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