Tom Koenigs: Die Taliban sind eine gesellschaftliche und eine religiöse Bewegung – und es ist eine ideologische Bewegung. Zweifellos gibt es starke fundamentalistische Kräfte darin, aber das ist nicht einheitlich. Einzelne Talibane kann man manchmal gar nicht genau zuordnen. Unsere Aufgabe ist es, zu differenzieren und den Islam zu sehen wie andere Religionen oder Bewegungen auch.
Aus meiner Sicht sollten wir stets darauf achten, bei den Taliban möglichst die liberalen Tendenzen zu unterstützen. Leider nehmen wir diese aber oft viel zu wenig zur Kenntnis. Doch es ist wichtig, etwas mit ihnen gemeinsam zu entwickeln.Sie haben es nicht verdient, dass sie immer nur gleichgesetzt werden mit Selbstmordattentätern oder mit irgendwelchen anderen Radikalinskis, bei denen sich jeder vernünftige Mensch nur an den Kopf greift.
Es stimmt, dass es in letzter Zeit im politischen Islam vermehrt fundamentalistische und auch radikale Kräfte gibt — aber das gilt nicht nur in Afghanistan, sondern ebenso in Ägypten, in Syrien und auch innerhalb der Exilgemeinden.
Ein Satz noch zusätzlich zu den Selbstmordattentätern.
Weil es mich zutiefst beunruhigt hat, habe ich mich mit der Frage befasst: Wie kann jemand überhaupt so etwas machen? Zunächst muss einem dazu bewusst sein: Im alten Christentum war das nicht grundsätzlich anders; dort gab es teilweise vergleichbare Tendenzen. Auch die sog. christlichen “Märtyrer” waren eine Art Bewegung — sogar noch zahlreicher als man sie in der Hagiographie (Geschichte der Heiligen) der Kirche beschreibt.
Die islamischen Selbstmordattentäter haben alle in ihrem Lebenslauf eine massive Verletzung ihrer Würde erfahren – sei es persönlich oder sei es, dass ein nahes Familienmitglied einem Drohnenanschlag zum Opfer gefallen ist: Sei es, weil in ihrem Land fremde Truppen stehen oder sei es, dass es eine ganz, ganz persönliche Beleidigung gegeben hat. Ich betone dabei ganz besonders die Würde; sie hat für sie eine hohe Bedeutung.
Zweitens haben sie alle einen tiefen Glauben an das Jenseits; sonst würden sie das Selbstmordattentat nicht machen.
Drittens haben sie das Bedürfnis, ein öffentliches Bekenntnis ihres Glaubens abzulegen. Es gibt kein einziges Selbstmordattentat, das in einem Hinterzimmer stattgefunden hat.
Die größte diesbezügliche “Inszenierung” war natürlich 9/11, der 11. September, der Anschlag auf die Twin-Towers in New York.
Paul: Auf die von Ihnen geforderte Unterstützung der liberalen Taliban möchte ich gerne nochmals zurückkommen und konkret zuspitzen. Heißt das, dass Sie auch dafür wären, Taliban mit in die offiziellen Verhandlungen einzubeziehen? Bislang werden sie international überhaupt nicht beteiligt. Worin sehen Sie die besten Mittel und Wege, in Afghanistan einen langfristigen Frieden zu schaffen?
Tom Koenigs: Wenn man Frieden machen will, muss man verhandeln — und natürlich nicht nur mit den Freunden.
Ein Kollege bei den Vereinten Nationen, der für die humanitäre Hilfe zuständig ist, hat mal zu mir gesagt: “Und wenn ich den Teufel treffe, dann werde ich auch mit ihm verhandeln – z.B. über die Lebensbedingungen in der Hölle!“ Man muss verhandeln. Verhandeln ist besser als schießen.
Verhandeln muss man mit allen. Auch mit dem Fremdesten, der einem am meisten zuwider ist, muss man verhandeln. Gerade bei Konflikten, die stark von Glaube und Religion, von Entwürdigung und auch von jahrzehntelanger Dauer geprägt sind, muss man in einen Verhandlungsprozess eintreten. Diese Konflikte sind militärisch nicht zu gewinnen.
Deshalb muss man auch mit den Taliban verhandeln.