Unser dritter Tag (14. Okt.): Besuch des ehemaligen Lagergeländes Sobibór am 74. Jahrestag des großen Aufstandes und der Flucht aus diesem reinen Tötungslager
Entlang der Eisenbahnschienen fuhren wir mit unserem Bus eine kleine Waldstraße Richtung Sobibór. Es wird immer ruhiger im Bus. “Schweigend stiegen wir aus — einerseits wissend, was uns erwartete, anderersets unwissend, was wir sehen und was wir dabei empfinden würden… Ein polnischer Geschichtslehrer begann mit allgemeinen Informationen über das Vernichtungslager. Allein der Anblick der Schienen sorgte dafür, dass mich jede Zahl und jeder Fakt bis tief ins Mark erschütterte.” (Lea)
Nach dem Vorbild des bereits fertiggestellten Vernichtungslagers Belzec hatte die SS Anfang 1942 im Zuge der “Aktion Reinhardt” mit dem Bau eines zweiten Todeslagers (Soibór) in der dünnbesiedelten Gegend bei Lublin begonnen. Kommandant des Lagers wurde der SS-Obersturmführer Franz Stangl (1908–1971), der zuvor in den “Ethanasie”-Anstalten Hartheim und Sonnenstein/Pirna tätig gewesen war. Ihm wurden etwa 30 SS-Männer unterstellt. Des weiteren setzte die SS Ukrainer und Volksdeutsche als Wach– und Sicherheitspersonal im Lager ein.
Das etwa 600 x 400 Meter große, an der Bahnlinie Chelm-Wlodawa gelegene Vernichtungslager Sobibór war in drei verschiedene Bereiche eingeteilt, die jeweils durch einen Zaun voneinander getrennt waren. Die erste Zone umfasste das Vorlager mit der Eisenbahnrampe und den Unterkunftsbaracken für das deutsche und ukrainische Personal sowie das Lager I mit Unterkünften für die jüdischen Häftlinge und mehreren Werkstätten.
Das Lager II diente als Bereich für die neu eintreffenden Juden, in dem diese ihre Habe und Kleider abgeben mussten.
Im Lager III befanden sich die Unterkünfte für die dort arbeitenden jüdischen Häftlinge sowie die Gaskammern und Massengräber.
Anfang Mai 1942 erreichten die ersten Transporte mit polnischen, österreichischen und tschechischen Juden aus den Ghettos des Distrikts Lublin das Vernichtungslager Sobibór. Nach ihrer Ankunft mussten die Juden ihr Gepäck an der Eisenbahnrampe zurücklassen und sich in die Entkleidungsbaracke begeben. Dort wurde ihnen mitgeteilt, dass sie nach dem Duschen in ein Arbeitslager überstellt würden. Nachdem sie sich ausgezogen hatten, wurden sie aufgefordert, Geld und Wertsachen abzugeben. Ein Schild mit der Aufschrift “Bad” wies ihnen den Weg durch einen schmalen Pfad (sog. “Himmelfahrtsstraße”), zu den Gaskammern, in welche mittels eines Dieselmotors Kohlenmonoxid eingeleitet wurde. Deren Schreie waren im Lager zu hören. Nach ca. 15 — 20 Min. waren sie erstickt.
Anschließend musste ein Arbeitskommando jüdischer Häftlinge die Leichen nach Wertgegenständen untersuchen und die Leichen anschließend in Massengräber werfen. Als Mitwisser des Verbrechens wurden diese “Arbeitsjuden” in gewissen Zeitabständen von der SS umgebracht und durch neue Häftlinge ersetzt.
Als Ende Juli 1942 die Vergasungen in Sobibór wegen Reparaturarbeiten an den Bahngleisen eingestellt wurden, waren bereits mindestens 77.000 Juden in den Gaskammern ermordet worden. Da die Massengräber infolge der Hitze aufgequollen waren und die SS keine Beweise für die Verbrechen hinterlassen wollte, ließ sie die Leichen ausgraben und nun auf Scheiterhaufen verbrennen.
Im Oktober 1942 gingen in Sobibór sechs neue Gaskammern in Betrieb, in denen rund 1.300 Menschen gleichzeitig umgebracht werden konnten.
Im Juli des folgenden Jahrs ordnete Heinrich Himmler die Umwandlung Sobibors in ein Konzentrationslager an, in dem erbeutete Munition sortiert und gelagert werden sollte. Obwohl auf dem Lagergelände bereits mit ersten Bauarbeiten für die neue Funktion Sobibórs begonnen wurde, waren die jüdischen Häftlinge von der baldigen Liquidierung des Lagers überzeugt.
Am 14. Oktober 1943 organisierten die Häftlinge einen Aufstand.
Der Aufstand von Sibibór:
Als im Frühjahr 1943 weniger Transporte von Juden in Sobibór ankamen, wurde den Häftlingen klar, dass eine Schließung des Lagers auch ihren Tod bedeuten würde, und es gründete sich eine Widerstandsgruppe von zehn bis zwölf Personen unter Führung von Leon Feldhendler, der damals 33-jährige Sohn eines Rabbiners. Die Häftlinge im Lager III begannen im Sommer 1943 mit dem Bau eines Fluchttunnels. Als dieser verraten wurde, erschoss die SS alle Häftlinge dieses Lagers.
Am 23. September traf mit einem Transport von 2.000 Juden eine Gruppe von 80 sowjetischen Kriegsgefangenen im Lager ein, darunter Alexander Petschjorski, ebenfalls Jude, ein Leutnant der Roten Armee. Die kampferfahrenen und taktisch geschulten Soldaten waren in der Lage, Aktionen militärisch präzise zu planen und diszipliniert durchzuführen. Feldhendler und Petscherski arbeiteten nun zusammen. Petscherski schlug vor, SS-Männer unter dem Vorwand der Ausgabe besonderer Kleidungsstücke und Schuhe innerhalb eines Zeitraums von einer Stunde vor der Massenflucht in örtlich unterschiedliche Hinterhalte zu locken und dort lautlos zu töten. Um die Geheimhaltung zu gewährleisten, waren lediglich 30 bis 40 Häftlinge in die Planungen eingeweiht. Die Lagerbewachung bestand nur aus etwa 25 bis 30 deutschen SS-Angehörigen, von denen 18 stets gleichzeitig anwesend waren, und etwa 90 bis 120 ukrainischen Wachmännern, den so genannten Trawniki-Männern. Deren Verhalten war der größte Unsicherheitsfaktor in diesem Plan.
Am 14. Oktober 1943 um 16:00 Uhr begann der Aufstand wie geplant. Wie vorgesehen, wurden die SS-Männer lautlos getötet. Der SS-Unterscharführer Josef Wolf wurde bei der Anprobe eines Ledermantels in der Sortierbaracke durch einen Axthieb getötet, und der 17-jährige Yehuda Lerner und Arkadij Wajspapir erschlugen den Kommandanten der Ukrainer, Siegfried Graetschus, und den ukrainischen Wachobermann Rai Klatt mit Beilen …
Die Telefonverbindungen nach draußen wurden gekappt. Am Abend waren zwölf SS-Männer der Wachmannschaft tot und einer lebensgefährlich verletzt; weitere zwölf der insgesamt 29 SS-Männer, die zum Zeitpunkt des Aufstands zum Wachpersonal gehörten, waren an diesem Tag nicht anwesend. Außerdem wurden zwei Trawniki-Männer getötet. Bei ihren verzweifelten Versuchen, den Stacheldrahtzaun und die Minenfelder zu überwinden, gerieten viele der etwa 600 fliehenden Häftlinge in den Kugelhagel der Wachmannschaften, verfingen sich im Drahtzaun und traten auf Minen. Etwa 365 Menschen gelang zunächst die Flucht aus dem Vernichtungslager, aber nur 200 erreichten den nahegelegenen Waldrand. Der nahe Wald bot in der anbrechenden Dunkelheit Deckung und erste Verstecke. Geld und Wertgegenstände hatten die Häftlinge für ihre Flucht untereinander verteilt. Doch nur 42 Flüchtlingen gelang es, sich bis zum Kriegsende vor den Deutschen zu verstecken und zu überleben.
Nach dem Aufstand ermordete die SS alle noch im Lager befindlichen Häftlinge und zerstörte sämtliche Gebäude. Auf dem Lagergelände wurden nun Bäume angepflanzt und Bauernhäuser errichtet, in die einige der Ukrainer aus dem Lagerkommando einzogen.
In Sobibór wurden vermutlich zwischen April 1942 und Oktober 1943 über 250.000 Menschen getötet — sehr viele von ihnen stammtenaus dem Generalgouvernement, Österreich, dem “Protektorat Böhmen und Mähren”, der Slowakei, Deutschland, Frankreich und ca. 34.000 aus den Niederlanden
Aus der Liste der Überlebenden:Thomas Blatt, Jules Schelvis, Yehuda Lerner, Estera Raab oder z.B. auch Philip Bialowitz.
Über den Aufstand in Sobibór drehte ein britisches Team 1987 den Kinofilm “Escape from Sobibor” - unter der Regie von Jack Gold und der Mitarbeit von drei Überlebenden dieses Aufstandes.
Jessie from the Netherlands writes:
At Sobibór: The realization that I was standing on the place where my family and thousands of others were murdered.
I stood there, realizing that it is a miracle that I and a lot of others are living today.
When I was standing there I tried to realize how it would have been if I was standing there during the war … that’s so painful.
And at the same time it makes me realize that I am free today. Free to do whatever I want and also free to tell the story about what happened here to everyone who wants to hear it. This way we hopefully can prevent that something like this happens again…
I’ll never forget what the monument in Majdanek says: “Let our fate be a warning for you.” - Please keep that in mind, don’t forget!
Manchmal ist es schwer, etwas in Worte zu fassen. Ich möchte weinen, doch die Augen bleiben trocken. Ich bin zu schwach und jegliche Emotion ist zu anstrengend … Allmählich wird mir klar, warum mein Körper streikt, warum mein Kopf und Herz so leer sind. Ich scheue die erneute Konfrontation, denn gerade erst konnte ich aufhören zu weinen. Warum sollte ich mir das jetzt noch einmal antun? Der Widerwille sitzt tief, ist groß, doch die Notwendigkeit das Gesehene aufzuschreiben ist größer, sei es zur Verarbeitung, sei es zur Erinnerung. So schmerzlich es auch ist, ich möchte mich für den Rest meines Lebens daran erinnern, das ist meine innere Verpflichtung …
In Sobibór stiegen wir zunächst schweigend aus dem Bus aus – einerseits wissend, was uns erwartete, andererseits unwissend, was wir zu sehen bekommen würden. Alleine der Anblick der Schienen sorgte für mich schon dafür, dass mich jede Zahl und jeder Fakt, die wir hier von einem Geschichtslehrer hörten, bis ins Mark erschütterte … Plötzlich stieß noch eine Amerikanerin zu unserer Gruppe. Sie hielt ein Namensschild in der Hand und erzählte von ihrer Nachbarin (Selma Wijnberg), eine der wenigen Überlebenden, um genau zu sein, eine der zehn Frauen, die dank des Aufstandes in die umliegenden Wälder fliehen konnte. Sie erzählte von ihr …
Später zeigte uns ein Archäologe (W. Mazurek) einen kleinen Kettenanhänger in Form eines Herzes, von einem kleinen jüdischen Mädchen, das hier auch ermordet wurde … Anschließend führte er uns durchs Gestrüpp, entlang der früheren sog. „Himmelfahrtsstraße“, dem Weg, den damals 250.000 Menschen in die Gaskammern hatten gehen müssen. Von den Gaskammern war nicht mehr übrig als ein Schornstein und die freigelegten Reste der Fundamente. Ein viel größerer Blickfang war für uns der große Hügel aus weißen Steinen. Uns wurde gesagt, dass sich darunter die Asche der Opfer befinde. Der Anblick war erschütternd, die Ausmaße des Hügels gigantisch. Das Weiß der Steine leuchtete stark in dem von den Wolken zerstreuten Licht der Sonne. …
Die Zeremonie zum Gedenken an die Opfer und an den Aufstand begann … Die niederländischen und deutschen Jugendlichen wurden aufgerufen, die Namen der Opfer aus ihren Heimatstädten auszusprechen. Wie benommen gingen wir nach vorne und stellten uns vor den weißen Steinen auf. Weiß folgte auf weiß – und davor standen wir, also um die zwanzig Jungen und Mädchen. Die Menge der genannten Namen drückte auf mich herab, ich zitterte und mir wurde bewusst, dass ich jegliche Kontrolle über mich verloren hatte … Wir stellten Kerzen ab und legten selbst gesammelte Steine nieder, nach alter jüdischer Tradition.
Anschließend betraten wir den Weg in Richtung Ausgang, rechts und links gesäumt mit einzelnen Steinen, darauf immer die Namensschilder der Opfer. Namen über Namen. Ich hatte den Eindruck, dass es langsam genügte. So mächtig war das innere Gefühl der Ohnmacht. Und Jessie sang am Stein für die ermordete Ehefrau von Jules Schelvis noch ein jüdisches Lied …
Ein niederländischer Politiker (Doede Sijtsma) sah mich an und sagte, dass er bei seinem ersten Besuch in Sobibór genauso ausgesehen hätte wie ich jetzt und beschrieb mir, was damals Jules Schelvis zu ihm gesagt hatte: Es ist gut und wichtig, hier vor Ort zu trauern und zu gedenken. Aber sobald man das Lager verlasse, solle man weiterleben – man solle gedenken und erinnern und vor allem auch leben. – Die Worte trafen mich, irgendwie presste ich ein zittriges „Danke“ hervor. In dem Moment und auch in den nächsten Tagen war es schier unmöglich „normal“ weiterzumachen, doch natürlich geht es.
Es ist unsere Verpflichtung als Deutsche – aber auch als Mensch mit demokratischen Grundwerten – zu gedenken und für das Gute einzustehen. Wir müssen an Sobibór und die nationalsozialistischen Verbrechen erinnern, damit wir daraus lernen.
Dominique, 16 years old, from the Netherlands writes:
Sobibor was for me very hard. There was a memorylane with names of people who died in Sobibór. There where so many names, too many. I felt sick when I walked through. Just innocent people who were murdered. I think it’s really important to keep this story alive …
Kirsten from the Netherlands writes:
Sobibór was the opposite of Majdanek. In Sobibór was nothing left. This gave me a feeling of emptiness and sadness. So many people have been murdered in Sobibór, but all we could see was a beautiful forest. It is so contradictory to each other. How could something so beautiful have such an awful past?
Lieke van der Linden, 15 years old , from the Netherlands writes:
Visiting the camps was both — very emotional and fierce. I never thought that it would be so fierce when we got the information about the camps. Inside me it was very silent and empty. The process was hard.I didn’t know what to do. After these days I think about it all time. Every time I tell the story again about the camps and our experience I start to cry. It’s so hard. You realize everything when you’ve seen the camps.
Nina, 23 years old , from Ukraine writes:
Probably I never thought for so long after attending concentration camps: Majdanek and Sobibór … About the last one, I have never heard before, but there happened the only story during the war that ended “happily”: prisoners managed to escape and about 60 of them survived! Majdanek and Sobibór are now so different: One has a building, gas chambers, crematorium … and the other one is only forest today. At the same time they are somehow similar. After all, behind each of them, there is a certain history, by numbers and facts — human broken lives, suffering and true hell. Only after visiting such places you really appreciate life, freedom, the sky above your head, fresh air and warmth in the house. I hope that such a tragedy will never happen again!
David Joon and Renée Mens from the Netherlands write:
Sobibór was very emotional. First we got a tour from a Dutch archaeologist who has been excavating there for around three years. He told us a lot of his discoveries, what he excavated etc. He also explained the purpose of Sobibór and other death camps in the Second World War. They were purely designed to kill the Jews in the quickest way possible. After the tour with him the ceremony to commemorate the uprising in Sobibór took place. Different delegations of different countries spoke there, and so did we. The Dutch students (us) named the victims of Sobibór from our home towns. Afterwards, we placed a small candle and a stone at the monument to remember the victims of the death camp.Then, we walked along the memory lane: a lane with stones and names of victims engraved on them. We held a special ceremony at the stone of Rachel Schelvis, the murdered wife of Jules Schelvis, a Dutch survivor of Sobibór. This was for me the most emotional event of the entire week.I was unable to hold back my tears.
Die 15-jährige Madiha (D) schreibt:
Rückblickend auf den heutigen Tag, steckt so viel in dem einen Wort: SOBIBÓR. Es ist so viel, dass ich es nie mit Worten ausdrücken werden kann.
In Sobibór gab es kein Museum, keine Ausstellung. Es gab lediglich uns und die Überreste. Es lag an uns, sich ein Bild zu machen.
Schon als wir aus dem Bus stiegen, waren wir mittendrin. Man konnte die Rampe sehen, der Ort, an dem Tausende von Menschen ausgestiegen waren und vielleicht dachten, sie würden von hier aus weiterfahren in ein Arbeitslager. Sie wussten nicht , dass sie niemals wiederkommen würden. Man sagte ihnen, sie sollen ihre Wertgegenstände in der Baracke ablegen, damit nichts verloren geht. Nichts weiter als eine Lüge. Nur leere Worte. Sie treten nun den vermeintlichen Weg zu den “Duschkabinen” an, die sich als Gaskammer entpuppten. Dass sie hier — anders als in den anderen Lagern — nicht mit Zyklon B vergast wurden, sondern mit Abgasen eines Motors, spielt keinerlei Rolle für mich. Das einzige, woran ich denken konnte, war, sie liefen blind in den Tod …
Wir kamen bei der Gaskammer an, von der nur ein Schornstein übrig war. Doch nicht das war es, was mir auffiel, was mir das Atmen erschwerte. Es war das Steinmeer im Hintergrund: Ein weißes Meer aus Steinen, das Massengrab. Zum zweiten Mal in dieser Woche wird mir die Masse bewusst. Ich kenne Zahlen, man kennt sie aus Büchern und Texten. Dennoch war ich mir der Dimension so nie bewusst. Die Distanz, die immer da war, war nun verschwunden.
Wir liefen weiter, die Zeremonie zum 74. Jahrestages des Häftlingsaufstandes begann. Auf die Worte konnte ich mich nicht ganz konzentrieren. Ich sah nur die Steine. Ganz viele weiße Steine. Sind es so viele Steine, wie Menschen hier ermordet wurden? Ich begann die Masse nicht mehr als Masse zu sehen. Wenn man genauer hinschaut, hat auch nicht jeder Stein dieselbe Form.
Nun sollte ich aber, bevor wir die Namen von ermordeten aus Mörfeden verlesen, einen Einleitungssatz sagen. Vorher hatte ich gedacht, es sei bloß ein Satz, doch als es nun wirklich soweit war, fiel es mir schwer. Ich hatte Angst zu sprechen. Nicht weil ich etwas falsch sagen könnte, nein es war etwas anderes. Ich weiß aber nicht was. Doch zu meiner Linken stand Jessie, sie hatte soeben die Namen ihrer Verwandten vorgelesen. Sie stand an dem Ort, an dem ihre Urgroßeltern ermordet wurden. Sie hat es geschafft. Als sie mir das Mikrofon gab, lächelte sie mich sogar an. Das gab mir Mut. Sie gab mir Mut. Dieser Mut begleitet mich bis jetzt, bis zu dieser Sekunde. Nachdem wir die Kerzen zu dem Massengrab gestellt hatten, begann ich leise zu weinen. Ich hörte Lea neben mir weinen. Ich wollte sie in den Arm nehmen, aber ich konnte es nicht. Es war mir nicht möglich. Als wir weiterliefen, den Weg, der jetzt die Himmelfahrtsstrasse darstellen soll, lief ich einfach und weinte. Ich konnte die Namen nicht mehr lesen. Ich wollte nicht. Ich wusste, ich würde das nicht aushalten. Auf dem Weg habe ich so viele andere Jugendliche umarmt, ich weiß aber nicht mehr wen. Es war egal, wen wir umarmt haben. Es ging darum füreinander da zu sein.
Wir kennen uns noch nicht lange, doch ich fühle eine gewisse Gemeinschaft, was mich enorm stärkt. Alleine hätte ich es nicht durch den Tag geschafft. Vor allem aber hat Dominique mir heute geholfen, ich war total aufgelöst, wusste nicht, was ich machen soll. Als wir in den Bus stiegen, waren alle bereits im Bus. Neben Domi war ein Platz frei, sie rief mich und sagte ich solle mich hinsetzen. Das tat ich. Ich saß da schweigend bis der Bus losfuhr. Dann fing ich plötzlich an ihr zu erzählen, wie ich mich fühlte. Sie antwortete nicht darauf, sondern erzählte, wie sie sich fühlte, dass sie gerne weinen würde, aber nicht konnte. Wir schwiegen für einen Moment bis jemand von vorne uns fragte, ob wir Schokolade möchten. Wir schauten uns beide an und nahmen ein Stück. Danach mussten wir einfach lachen. Wir lachten einfach und es war befreiend. Es scheint vielleicht absurd direkt nach Sobibór zu lachen, aber hat der Politiker (Doede Sijtsma) nicht gesagt, dass ein Sobibór-Überlebender zu ihm gesagt habe, man solle im Vernichtungslager trauern und dann aber auch wieder ins Leben hinaus gehen und leben. Leben und berichten.
Ich bin unheimlich glücklich, dass wir alle Jugendliche Interesse haben und etwas erreichen wollen. Ich hoffe, dass wir uns alle wiedersehen, einander berichten, was wir der Welt mitteilen konnten.
Bei der Rückfahrt im Bus weiß niemand von uns, was für diesen Tag die richtigen Worte sind. Gleichzeitig ist uns bewusst: Wir haben nur noch einen gemeinsamen Abend. Die Jugendlichen der verschiedenen Nationen passten sehr gut zusammen. Es gab keinen bedeutsamen Konfliktfall. Es dominierte stets die Freude, andere kennenlernen zu können. Wir sind alle sehr dankbar, dass wir die Erfahrungen der letzten Tage gemeinsam erleben konnten.
Am Abend nach dem Essen bittet Jakub darum, Evaluationsbögen zum Workshop auszufüllen und regt anschließend nochmals kurze Statements unter uns an.
Ein gewiss nicht untypisches Statement der Jugendlichen ist dieses hier:
David Joon and Renée Mens from the Netherlands write:
Back in the hotel, we discussed the events of the week in different groups made up of students from all the countries present. It seemed to me that it was a good time to talk about the group. In general, the atmosphere in the group was really relaxed. Everyone got along and was able to have both intellectual conversations about history and also small-talk about school, social life and things like that. All and all it was a week of many emotions: happiness, but also sadness. Being relaxed, but also being serious. Laughing but also crying. It is because of this that it is difficult to find one word to describe the week. The only word I can think of is: unforgettable.”
Am nächsten Morgen begann die Rückreise mit dem Bus nach Warschau. Um von der polnischen Hauptstadt und der dortigen jüdischen Geschichte noch möglichst viele Eindrücke bekommen zu können, hatten wir beschlossen, früh loszufahren …