6. –10. Oktober 2021
Nun haben wir die Gelegenheit konkret über eure Familien zu sprechen …
Benoit beginnt: Meine Mutter, Magda Hollander, ist in Nyíregyháza aufgewachsen, eine Kleinstadt im Osten Ungarns. Als ihre Familie ins Ghetto umziehen musste, war Ihr Vater schon erkrankt. Er starb noch vor der Deportation. Im Mai 1944 wurde meine Mutter zusammen mit ihrer Mutter (Esther) und ihrer Schwester Irén nach Auschwitz-Birkenau deportiert. Ihre Mutter und die vier Jahre jüngere Schwester wurden sofort nach der Ankunft ermordet. D.h. meine Mutter, damals 17 Jahre alt, war nun allein. Nach dem Krieg lebte sie zunächst in Belgien, ab 1954 in Frankreich. Durch viele Gespräche mit einer Katholikin, die ihr half und die sie sehr unterstützte, entschließt sich meine Mutter zum katholischen Glauben überzutreten …
Und wann fing Magda an darüber mit euch Kindern zu sprechen?
Mitte der 1970er Jahre war meine Mutter schwer erkrankt. Wir hatten Angst, dass sie sterben würde. Ich denke, in dieser Zeit entstand bei ihr der Gedanke, ein Buch zu schreiben über ihre Zeit im KZ. Wir wussten aber nichts davon. Eines Tages legte sie es uns hin „Les chemins du temps“. Ich denke, es war ihr sehr wichtig, dass wir erfuhren, was ihr in den Lagern geschah. Ich war damals 17 Jahre alt. Sie hat es für uns geschrieben
Wie hast du darauf reagiert, was hat das für dich bedeutet?
Ich war damals ein Teenager und habe die Bedeutung damals, glaube ich, noch nicht erkannt. Sie hat auch weiterhin wenig mit uns darüber gesprochen. Und auf Fragen antwortet sie nur, wenn sie es möchte. Sonst findet sie viele Aus– und Umwege.
Ihr Buch erschien 1977; ein Jahr später gab es einen großen Skandal in Frankreich, als Louis Darquier de Pellepoix, Verantwortlicher für „Judenfragen“ unter dem Vichy-Regime, in einem Interview sagte, in Auschwitz seien nur Läuse vergast worden. Das erschütterte und empörte meine Mutter zutiefst und hat dazu nun auch öffentlich sehr oft gesprochen. Innerhalb der Familie aber blieb vieles weiterhin unausgesprochen und unklar.
Wie ging es dir, Barbara? Enkelinnen haben ja meist eher die Möglichkeit Fragen zu stellen als die Kinder der Holocaustüberlebenden?
Barbara: In bestimmter Weise ging es mir ähnlich wie meinem Vater. Magda ist so. Sie antwortet auf Fragen nur, wenn sie es will. Aber ich habe mich viel mit der jüdischen Geschichte beschäftigt. Ich weiß, dass es für Holocaustüberlebende schwer ist sich zu erinnern. So kann sie z.B. auch nicht mehr Ungarisch sprechen. Sie versteht ihre Muttersprache noch, aber sie kann sie nicht sprechen.
Magda hatte niemanden aus der Familie bei sich im Lager. Als junges Mädchen in so einer Situation ganz auf sich alleine gestellt zu sein, ist extrem. Sie sagte selbst einmal, dass sie eine Amnesie habe, einen Gedächtnisverlust — vermutlich ist auch das eine Form der Überlebensarbeit nach 1945.
Eine Freundin hatte sie bei sich, Martha. Zu ihr hatte sie nach 1945 noch jahrzehntelang Kontakt. Martha besuchte uns häufiger, lebte aber weiterhin in Belgien.