Am zweiten Tag des internationalen Jugendworkshops besichtigen wir die Gedenkstätte Majdanek
Majdanek war nach dem Krieg die erste Holocaust-Gedenkstätte. Bereits im August 1944, einen Monat nach der Auflösung des KZ, entstand die Idee und bereits im November 1944 wurde ein staatliches Museum eröffnet.
Die Gedenkstätte befindet sich heute auf einem Teil des ehemaligen Lagergeländes. Auf dem Lagergelände wurden Wachttürme und Baracken rekonstruiert bzw. instandgesetzt. Die erhalten gebliebenen Anlagen wie Duschen, Desinfizierungsbad, Gaskammer, der Seziertisch für die ermordeten Häftlinge und die Öfen des Krematoriums sind öffentlich zugänglich.
Ein rund 20 Meter Durchmesser großes Mausoleum beinhaltet die Asche und sterblichen Überreste ermordeter Menschen aus dem Krematorium und den Erschießungsgräben.
Zur Geschichte des KZ
Wenige Wochen nach dem deutschen Überfall auf die Sowjetunion 1941 begann auf Befehl des Reichsführers der SS, Heinrich Himmler, der Bau eines sog. “Kriegsgefangenenlagers der Waffen-SS” in dem Lubliner Vorort Majdan Tatarski. Dort sollte die zentrale Militärverpflegungsbasis für die im Osten geplanten SS-Dienststellen und –Wirtschaftsunternehmen entstehen.
Himmler ernannte Brigadeführer Odilo Globocnik, den SS– und Polizeiführer Lublins, zu seinem Beauftragten für die Errichtung der SS– und Polizei-Stützpunkte im neuen Ostraum. Geplant war ein ausgedehntes Netz von militärisch befestigten SS– und Polizeistandorten, das auch Wohnbezirke für deren Familien einschließen sollte. Als Zentrum der SS– und Polizeikasernenviertel wurde Lublin ausgewählt, das nun mit Reichsdeutschen besiedelt werden sollte.
Gerade Lublin war bis zum Beginn des Zweiten Weltkrieges für Juden ein besonderer Ort. In der 120.000 Einwohner zählenden Stadt gab es damals 12 Synagogen, zudem etwa hundert private Gebetsräume, ein jüdisches Krankenhaus, Altersheim, Waisenhaus, zwei jüdische Zeitungen, die auf Jiddisch publizierten.1930 befand sich in Lublin die größte Talmudschule der Welt, die Chachmei Lublin Jeschiwa. Das Grab des weisen Rabbiners Jaakow Jizchak Horowitz (1745 – 1815) auf dem jüdischen Friedhof der Stadt war zu einem bedeutenden Wallfahrtsort geworden. Ein Drittel der Stadtbevölkerung waren Juden.
Nach einem Befehl Himmlers vom 19. Juli 1942, der die Räumung aller Ghettos im Generalgouvernement vorschrieb, wies die SS Juden aus der Region Lublin und aus dem Warschauer und Bialystoker Ghetto in das Lager ein.
Im Februar 1943 wurde Majdanek zum “Konzentrationslager Lublin” für polnische politische Häftlinge und Juden. Die KZ-Insassen wurden hauptsächlich in den “Deutschen Ausrüstungswerken” (DAW) und den SS-Bekleidungswerken zur Verarbeitung des Eigentums der ermordeten Juden für den Frontbedarf eingesetzt. Häftlinge, deren Arbeitskraft die SS nicht oder nicht mehr nutzen konnte, ermordete sie ab Oktober 1942 in einer neu errichteten Gaskammer. Zur Verbrennung der Leichen ließ die Lagerverwaltung im September 1943 ein neues Krematorium mit fünf Brennöfen bauen.
Nach Aufständen in den Vernichtungslagern Sobibór und Treblinka erschoss die SS in Majdanek aus Angst vor weiteren Unruhen im November 1943 rund 17.000 Juden innerhalb weniger Stunden im Rahmen der “Aktion Erntefest”.
Unzählige KZ-Insassen starben an Hunger, Krankheiten und den harten Arbeitsbedingungen.
Infolge des schnellen Vormarschs der Roten Armee auf Lublin während der Operation Bagration Ende Juli 1944 wurde das KZ Majdanek von der SS überhastet geräumt. Vor dem Abtransport der Gefangenen wurden alle Dokumente vernichtet und die Gebäude samt dem großen Krematorium in Brand gesetzt. In der Eile des Rückzugs zerstörten die Deutschen aber nicht die Gaskammern sowie einen Teil der Gefangenenbaracken.
Das KZ Majdanek wurde am 23. Juli 1944 aufgelöst. Angehörige der Roten Armee fanden im Lager noch 1000 kranke sowjetische Kriegsgefangene vor.
Opferzahlen
Über die Zahl der Opfer, die in Majdanek getötet wurden, gab es lange Zeit nur grob geschätzte Angaben. Erste Zahlenangaben nach der Befreiung im Jahre 1944 beliefen sich auf 1.700.000 Opfer. 1948 vermutete man, dass in Majdanek 360.000 Menschen umgekommen seien. Forschungsergebnisse von 2006 reduzieren die Gesamtzahl derjenigen, die in Majdanek ums Leben kamen, auf 78.000, darunter 59.000 Juden.
Die Jugendlichen schreiben nach dem Besuch der Gedenkstätte:
Der 18-jährige Julian: „Ich bin kein Mensch der großen Worte, dennoch versuche ich meine Erfahrungen mit Ihnen zu teilen … Was mir wirklich die Sprache verschlagen hat, war der Ascheberg. In diesem Moment stand für mich die Zeit still. In diesem Augenblick realisierte ich vielleicht zum ersten Mal die Dimension der Perversität, mit der die Nazis diese Massen an Menschen — Menschen wie Sie und ich oder unsere Freunde — ermordet haben…“
Der 18-jährige Luuk (NL) schreibt: “When we got to Majdanek and saw the watchtowers, I imagined when it still was operating as a camp. I saw the prisoners with their scared face expressions and the SS guards who were randomly shooting prisoners.
I walked on the roads of death. I walked on the end page of many stories. Untold stories. Stories who’ve been abruptly stopped.
Confrontation with history. Confrontation with death. Confrontation with something you didn’t believe could happen, but did. Thousands and thousands were murdered on the grounds where I walked. Screams and cries echoing through history in my mind. Why on earth do I want to go to a place that was hell for Jews/homosexuals/political enemies/gypsies and more…”
Die 17-jährige Lea (D) schreibt: „Sie haben das Lager rekonstruiert, Baracke für Baracke. In manchen wurden Kunstobjekte gezeigt – z.B. Kugeln aus Stachdraht, die an die vielen verschiedenen Nationen erinnern sollten -, in anderen waren Holzbetten oder auch Schuhe von ehem. KZ-Häftlingen.
Es war alles irgendwie „schön“ gemacht. Doch es war, als wäre es damit auch dem eigentlichen Zweck entfremdet. Das Geschehene schien kaum greifbar … Darf man das Wort “Freilichtmuseum” verwenden? … Für mich war es, wenn ich ehrlich bin, ein schwaches Abbild von dem, was eigentlich in und vor den Baracken vonstattengegangen war … Natürlich gab es Momente, in denen plötzlich der Horror auf einen einstürzte – wie z.B. das Video einer Zeitzeugin, aber vor allem war es der Anblick eines riesigen Denkmals. Am Ende der Stufen thronte eine Art Kuppel, die einen riesigen Berg menschlicher Asche überspannte.
Davor stand eine Gruppe junger Israelis. Sie sangen und beteten, die Flagge Israels wehte im Wind. Ich war nicht in der Lage, sie oder ihren Davidstern auch nur anzusehen – so sehr habe ich mich geschämt Deutsche zu sein. Wir gingen an den Israelis vorbei zum Krematorium, das aus den gleichen Elementen bestand wie das in Buchenwald …“
Die 16-jährige Dominique (NL) schreibt:
“When I came to the concentration camp Madjanek I was shocked. I saw with my own eyes the place where all the horrible things had happened. The baracks were still there. It’s such a weird feeling to stand free and alive at a place where thousands of people were murdered. In the evening we had a workshop were we discussed what we saw. It was very good to discuss, I think because there were different statements about the feelings. For me Majdanek was really hard to see because I couldn’t think about why people would do this horrible thing.”
Die 15-jährige Madiha schreibt:
„Freitag, der 13.10.2017:
Ich denke an den Ort in Majdanek, an dem unzählige Menschen erschossen wurden. Das wird mich eine Ewigkeit verfolgen. Man schoss unschuldige Menschen ohne jede Gnade ab — während gleichzeitig Walzermusik gespielt wurde. Und wir sollen gleichzeitig bedenken, dass die Täter, diese “kranken” Menschen, teilweise auch noch Spaß daran hatten. Sobald ich daran denke, macht es in meinem Kopf “Tatatatatatata” — so wie eine Zeitzeugin es beschrieb. Das war das einzige, was sie durch die Musik hindurch hören konnten. Dieses “Tatatatata” hat sich in meinem Kopf festgefroren.
Als wäre das nicht schon abartig genug … Bald hören wir das Nächste: Einer der SS-Männer hat seine Badewanne in der Nähe bei dem Krematorium aufstellen lassen, um die Wärme dieser Öfen zu nutzen. Welch ein Mensch will dort baden, wo Leichen verbrannt werden? Klar wurde uns gesagt, dass er irre war. Aber es ist eigentlich unmöglich das Denken der Nazis zu verstehen. Ich frage mich, gab es dahinter überhaupt eine Logik? Mit der Zeit denke ich, sie haben vieles bloß nach ihrer Laune getan. Doch wer ist in der “Laune” einfach jemanden zu ermorden? Natürlich gibt es immer welche, die geistig krank sind, doch das kann ja keine ganze Masse gewesen sein. Einige haben vielleicht diese grauenvollen Taten begangen um ihre Familie zu beschützen, nahmen dabei aber in Kauf, dass andere Familien komplett ausgelöscht wurden, andere waren einfach krank … Und der Rest soll einfach von dem Nationalsozialismus begeistert gewesen sein? Das ist für mich undenkbar, wie kann man für so etwas begeistert sein?
In mir kochte die Wut darüber, wie man so etwas Abartiges tun konnte und andererseits über mich, da ich mich frage, ob ich damals in der Lage gewesen wäre, Widerstand zu leisten. Ich kann es nicht sagen. Wie leicht ist es für uns heute zu sagen, sie hätten sich wehren sollen. Wenn man aber überlegt, was man selbst getan hätte, dann kennt man die Antwort nicht.
Ich war wie benommen, als wir an dem riesigen Monument, das mit der Asche der Opfer gefüllt war, vorbeiliefen. Es war das erste Mal, dass mir förmlich vor Augen geführt wurde, welch ein große Masse grundlos ermordet wurde. Ich kann es noch immer nicht fassen, wie das möglich ist.
Als wir die Stufen nach oben liefen, fühlte ich mich immer kleiner. Die Fakten interessierten mich nicht mehr. Ich stand nun da. Alles ausgeblendet. Trotzdem fühlte ich mich nicht allein, es war, als wären die Opfer präsent … - Ich war völlig durcheinander, konnte meine Gedanken nicht sortieren. Doch dadurch, dass wir danach essen gegangen sind, konnte ich wieder klarer denken, nicht weil wir gegessen haben, sondern weil wir dabei reden konnten. Ich finde es immer wichtig zu reden, obwohl ich meistens denke, dass ich mich gar nicht richtig ausdrücken kann. Doch ich denke das Sich-Nicht-Ausdrücken-Können macht dem Gegenüber vielleicht trotzdem einiges klar.“
Lublin
Nach dem Mittagessen fuhren wir nach Lublin, der heute neuntgrößten Stadt Polens und Sitz von fünf Universitäten. das Schloss it eine der ältesten erhaltenen Residenzen Polens. Unter der deutschen Besatzung war das damals dort untergebrachte Gefängnis unter deutscher Führung, die zunächst dort die Juden Lublins internierte, bevor diese in Konzentrationslager deportiert wurden. Insgesamt wurden dort 1939 — 1944 zwischen 40.000 und 80.000 Personen inhaftiert. Die meisten davon waren polnische Widerstandskämpfer. Kurz vor dem Rückzug der Deutschen aus Lublin wurden am 22. Juli 1944 die letzten 300 Häftlinge ermordet. Nach 1944 bis 1954 wurde das Schloss durch die sowjetische Geheimpolizei und später durch das Ministerium für Öffentliche Sicherheit genutzt, um dort ca. 35.000 politische Gegner des kommunistischen Staates dort zu inhaftieren. Seit 1957 ist es Museum.
Nach den Aufständen in Treblinka (2. Aug. 1943) und in Sobibór (14. Okt. 1943) ermordeten die Deutschen innerhalb von 24 Stunden im Distrikt Lublin 42.000 Juden. Erschossen wurden die Gefangenen der umliegenden Lager, aber auch Menschen, die an ihrem Arbeitsplatz, in ihren Wohnungen oder in Cafés verhaftet worden waren.
Nach der Rückkehr ins Hotel und dem gemeinsamen Abend spricht Jessie van de Kamp über ihre Familie. Als ihre Urgroßeltern deportiert wurden (über Westerbork nach Sobibór) gaben sie die eigene 11 Monate alte kleine Tochter zu holländischen Freunden, Nicht-Juden, mit der Bitte, sich um ihr Baby zu kümmern. Das Kind wurde mehrfach, wenn es gefährlich zu werden drohte, in andere Familien weitergereicht. Das kleine Baby, Jessies Großmutter, hat ihre Eltern niemals wiedergesehen. Sie sprach auch wenig darüber und fuhr niemals nach Sobibór, das Lager, in dem die Eltern ermordet wurden. Auch Jessies Mutter hatte niemals die Kraft oder auch den Mut, an diesen Ort zu fahren. Jessie ist die erste ihrer Familie, die dies auf sich nimmt. Sie berichtet uns von ihren Recherchen und — wie sie inzwischen weiß — den vielen Verwandten von ihr, die in Sobibór getötet wurden.
Nach einer kleinen Pause ist klar, was nun alle brauchen: ein Gespräch untereinander in Kleingruppen über die Frage, wie man Majdanek wahrgenommen hat, wie man dieses verarbeiten kann, welche Gedanken und Worte jeder Einzelne hierfür findet. Wichtig erscheint es uns, dass gerade bei einer solchen Gespräch die Nationalitäten gemischt sind — zur Frage der heutigen Wahrnehmung des Lagers gehört natürlich für Jeden die Reflexion der eigenen Person und auch die Form der Beschäftigung mit dem Holocaust im eigenen Heimatland.
Die Fotos werden nicht kommentiert. Sie sprechen für sich. die Konzentration und Ernsthaftigkeit, mit der sich die jungen Menschen an diesem Abend unterhielten, schien für sie ganz selbstverständlich. Die Erwachsenen waren tief von dieser Atmosphäre beeindruckt. Offensichtlich war dieser Abschluss des Tages genau das, was die engagierten jungen Menschen brauchten. Wichtig waren Allen, eine Sprache für das zu finden, was sie erlebt hatten. Die anschließenden Kleingruppenberichte zeigten deutlich die beiden Bezugspunkte: Wissen und information auf der einen Seite, Gefühl, Trauer und Empathie auf der anderen. So schnell konnte man dies nicht zusammenbringen. Daran weiterzuarbeiten, wäe sehr gut. Doch an diesem Abend ging dies gewiss nicht mehr. Und der nächste Tag, Sobibór, stand bereits direkt bevor.
Die polnischen Jugendlichen konnten leider an diesem Abend nicht bei uns sein und mit diskutieren. Hinterher schickten sie aber Madiha, einer deutschen Teilnehmerin, die beiden folgenden Texte:
Die 17-jährige Carolina (Polen) schreibt:
I think the project “International Youth Workshop Sobibor” is very important. When I read about the holocaust in books we cannot realize how horrible it really was at that time. But when I saw Majdanek I felt what the holocaust really was. Meetings allowed us to integrate and share emotions. These few days have shown me that the most important thing in life is love and respect for another person.”
Die 17-jährige Julia (Polen) schreibt:
The international workshop was a great experience for me. It is important for us, young people, to know the past. Innocent people died. I think workshops will make us vulnerable and we will live in love regardless of race or religion. Just like Ariana Grande sings in her song :“So how we gonna stop the violence, stop the hurting? Stop the hatred, stop the murders. We’re all human, that’s for certain. Come together, we deserve it. What kind of life will our babies have if we don’t change up and make it last? It starts right here, starts right now. We’ll love and hope for…Better days, better days …”
Zur Dokumentation unseres dritten Tages, in Sobibór, klicken Sie hier: weiterlesen…