Zur Lage in Russ­land: NGOs und Medien in dem semi-totalitären Regime von Waldi­mir Putin

Fort­set­zung

Erst kürz­lich wur­den wie­der zahl­rei­che Orga­ni­sa­tio­nen ver­bo­ten. Was warf man ihnen vor?

A.S.: Vor­ge­wor­fen wur­den sehr all­ge­mein Ver­stöße gegen die gel­tende Gesetz­ge­bung der Rus­si­schen Föde­ra­tion. Anfang März wurde der bekannte Radio­sen­der „Echo Moskwy“ und dann der unab­hän­gige, pri­vate Internet-Fernsehsender „Doschd“ ver­bo­ten, Anfang April 15 Nicht­re­gie­rungs­or­ga­ni­sa­tio­nen – unter ande­rem die Heinrich-Böll-Stiftung, Friedrich-Ebert-Stiftung, Konrad-Adenauer-Stiftung, Friedrich-Naumann-Stiftung, aber auch die Men­schen­rechts­or­ga­ni­sa­tio­nen Amnesty Inter­na­tio­nal und Human Rights Watch.

Was bedeu­tet das Ver­bot so vie­ler NGOs zum gegen­wär­ti­gen Zeitpunkt?

A.S.: Gra­vie­ren­des. Mit der Inva­sion in die Ukraine und den ille­ga­len Angrif­fen auf die Zivil­be­völ­ke­rung hat sich die rus­si­sche Füh­rung end­gül­tig von den Regeln des Völ­ker­rechts ver­ab­schie­det, ja eigent­lich von dem Recht als sol­chem. Mit dem Ver­bot die­ser NGOs bean­sprucht sie nun auch nach innen die allei­nige Deu­tungs­ho­heit über Geschichte und Gegen­wart des Landes.

Screen­shot einer Seite der Home­page von “Human Rights watch” (Aus­schnitt) vom 10. März 2022

Gibt es jetzt über­haupt noch unab­hän­gige Medien in Russland?

A.S.: Nein. Eigent­lich nicht. Wir müs­sen uns aber dar­auf ver­stän­di­gen, was unab­hän­gige Medien heißt. Seit die­ser Anord­nung, dass der Krieg nicht als Krieg bezeich­net wer­den darf und dass die Zahl der Gefal­le­nen nicht genannt wer­den darf, hal­ten sich alle Medien daran. Alle. Selbst wenn sie ins­ge­heim oppo­si­tio­nell gestimmt sind.

Sie selbst arbei­ten seit vie­len Jahre mit „Memo­rial“ zusam­men. Motiv die­ser in Russ­land 1989 gegrün­de­ten Orga­ni­sa­tion ist es Men­schen­rechts­ver­let­zun­gen in Ver­gan­gen­heit und Gegen­wart zu doku­men­tie­ren, die­ses Wis­sen zu ver­mit­teln und sich um die Opfer poli­ti­scher Ver­fol­gung zu küm­mern. Bereits im Dezem­ber des ver­gan­ge­nen Jah­res wurde diese inter­na­tio­nal sehr geach­tete und mehr­fach aus­ge­zeich­nete NGO ver­bo­ten; im Februar d.J. wurde dies gericht­lich bestä­tigt. Sehen Sie einen Zusam­men­hang zwi­schen die­sem Ver­bot und dem Beginn des Krie­ges gegen die Ukraine nur zwei Monate später?

A.S: Im Nach­hin­ein lässt sich durch­aus mut­ma­ßen, dass bereits im Vor­feld des Angrif­fes auf die Ukraine “Memo­rial”, d.h. eine wich­tige oppo­si­tio­nelle Stimme im Land, mund­tot gemacht wer­den sollte. Man muss aber zudem wis­sen, dass Russ­lands Staats­füh­rung auch schon in frü­he­ren Jah­ren viel unter­nom­men hat, um die Arbeit von “Memo­rial” zu dis­kre­di­tie­ren. Beson­ders gra­vie­rend war ein Gesetz, das im Novem­ber 2012 in Kraft trat; es betraf die Arbeit soge­nann­ter „aus­län­di­scher Agen­ten“ in NGOs. Schnell wurde klar, dass diese Gesetz­ge­bung eine Offen­sive gegen alle zivil­ge­sell­schaft­li­chen Initia­ti­ven bedeutete.

Ein­gangs­schild des Mos­kauer Büros von „Memorial“

Was heißt kon­kret der Vor­wurf „aus­län­di­scher Agenten“?

A.S.: Das ist nicht ein­deu­tig. Das Gesetz von 2012 wurde immer wie­der nach­ge­schärft. Auch jetzt erwar­ten wir wie­der eine neue Ver­sion. Ich möchte Fol­gen­des vorab noch ergän­zen: Bereits vor 2012 gab es eine staat­li­che Kam­pa­gne, in der es hieß, die Zivil­ge­sell­schaft in Russ­land sei ein „Manö­ver“ des Wes­tens, d.h. aus dem Wes­ten gelenkt. Das eta­blierte das Deu­tungs­mus­ter: Oppo­si­tion kann per se nicht auf­rich­tig sein. So etwas wie einen auf­rich­ti­gen Pro­test gibt es nicht. Mit dem Gesetz von 2012 hat dies eine Struk­tur bekom­men. Zunächst zielte man nur auf NGOs, denen man „poli­ti­sche Tätig­kei­ten“ nach­wei­sen konnte und die (wenigs­tens teil­weise) aus dem Aus­land finan­ziert wer­den. Spä­ter betraf das Gesetz nun auch (oppo­si­tio­nelle) Medien und (unab­hän­gige) For­schungs­ein­rich­tun­gen, schließ­lich wurde es auch auf Pri­vat­per­so­nen aus­ge­wei­tet. D.h. wenn man einem Ein­zel­nen nach­wei­sen kann, dass er z. B. für einen Vor­trag oder ein For­schungs­pro­jekt  vom Aus­land Geld erhält, ist er schon poten­ti­ell ein „aus­län­di­scher Agent“.

Und es kam hinzu, dass „aus­län­di­sche Agen­ten“ in der öffent­li­chen Wahr­neh­mung ten­den­zi­ell als Ver­rä­ter ver­stan­den wer­den. Gemeint ist nicht Ver­rat an Putin, son­dern: Ver­rat an der Hei­mat, Ver­rat am Volk. Es muss nun jede Publi­ka­tion und jede öffent­li­che Mei­nungs­äu­ße­rung als Mei­nungs­äu­ße­rung eines „aus­län­di­schen Agen­ten“ dekla­riert wer­den. D.h. wenn Sie auf Face­book etwas pos­ten, sind Sie ver­pflich­tet, nicht ein­mal, son­dern bei jedem Post dar­auf hin­zu­wei­sen, dass die­ser Kom­men­tar, die­ser Like oder auch nur eine Wei­ter­lei­tung von einem „aus­län­di­schen Agen­ten“ kommt. Tat­säch­lich kann man mit die­sem Gesetz so gut wie jeden ins Gefäng­nis brin­gen. Die Deu­tungs­ho­heit, wer „aus­län­di­scher Agent“ ist, liegt ein­zig und allein beim rus­si­schen Staat. Die­ses Gesetz wurde auch als Argu­ment für die Schlie­ßung von „Memo­rial“ benutzt.  Am 28. und 29. Dezem­ber 2021 wur­den in Mos­kau die ent­spre­chen­den Urteile gefällt. Das Oberste Gericht Russ­lands hat diese Urteile im Februar d.J. bestätigt.

„Man kann nicht das Gedächt­nis des Vol­kes aus­lö­schen! Wir über­le­ben gerade noch in Armut, Recht­lo­sig­keit und fast ohne Hoff­nung,” steht auf dem Pla­kat der Frau steht, die gerade von Poli­zis­ten wird. Soe pro­tes­tiert gegen das Ver­bot von “Memo­rial.“
Aus. Home­page von „amnesty inter­na­tio­nal“, Screen­shot der Seite.

Ich möchte Sie bit­ten, wenigs­tens kurz zu schil­dern wie, wann und warum diese zivil­ge­sell­schaft­li­che Orga­ni­sa­tion “Memo­rial” entstand.

Home­page von „Memo­rial“, Screen­shot der Seite.

A.S.: “Memo­rial” ent­stand bereits 1987 im Zuge der Perestro­jka, in den letz­ten Jah­ren der Sowjet­union unter Michail Gor­bat­schow. D.h. „Memo­rial“ ist ein wich­ti­ges Pro­dukt des damals noch sowje­ti­schen, macht­kri­ti­schen Dis­kur­ses. Es war im Grunde eine spon­tane Bewe­gung, die gleich­zei­tig in meh­re­ren Städ­ten ent­stand, zunächst nur eine infor­melle Ver­ei­ni­gung von Gleich­ge­sinn­ten, die die neuen Frei­hei­ten auf­grif­fen. Den offi­zi­el­len Namen „Gesell­schaft ‚Memo­rial‘“ gibt es seit Januar 1989.

Das rus­si­sche Wort „Memo­rial“ bedeu­tet „Denk­mal“ oder „Gedenk­ort“. Anfangs ging es tat­säch­lich um ein kon­kre­tes Denk­mal für die Opfer von poli­ti­schen Repres­sio­nen. Die­ses damals staat­lich initi­ierte Pro­jekt sollte eine wich­tige sym­bo­li­sche Voll­en­dung des grund­le­gen­den poli­ti­schen Umge­stal­tungs­pro­zes­ses („Perestro­jka“ bedeu­tet Umbau) darstellen.

Doch die “Memorial”-Initiative wollte sich sehr bald nicht mehr nur aus­schließ­lich mit dem Denk­mal beschäf­ti­gen. Ihr Inter­esse war es zu geden­ken und dies zog unwei­ger­lich wei­tere prin­zi­pi­elle Fra­gen nach sich: Wer waren die Opfer und wie viele waren es? Warum gab es so viele? Wer waren die Täter? Wie und wo fin­det man ihre Namen?

Der „Solowezki-Stein“ ist das Denk­mal, das zu den anfäng­li­chen Arbei­ten von „Memo­rial“ gehörte. Er wurde am 30. Okto­ber 1990 in Mos­kau auf dem Lubjanka-Platz nahe der Zen­trale des NKWD ein­ge­weiht. Solo­wezki ist eine Insel im Wei­ßen Meer, auf der das erste große Häft­lings­la­ger der Sowjet­union stand. Seit 2006 wur­den an die­sem Stein die Namen von Tau­sen­den von Opfern ver­le­sen. Seit Kur­zem ist dies verboten.

Die Ant­wor­ten auf diese Fra­gen muss­ten erst gefun­den wer­den. So ver­schob sich die Tätig­keit von Memo­rial zuneh­mend in Rich­tung Recher­che– und Archiv­ar­beit, „oral history“ und his­to­ri­sche Exper­tise. Bemer­kens­wert ist die damit ver­bun­dene Ver­än­de­rung im Selbst­be­wusst­sein der Akti­vis­ten die­ser damals noch jun­gen Bewe­gung und so auch der Ziele. Ging es ihnen zunächst um die Durch­set­zung bezie­hungs­weise Voll­en­dung einer staat­li­chen Initia­tive zum Anden­ken an die Opfer des Staats­ter­rors unter Sta­lin, arti­ku­lier­ten sich ab circa 1988 zuneh­mend Zwei­fel an die­sem eng gefass­ten Ziel. Diese Zwei­fel gin­gen mit vor­sich­ti­gen macht­kri­ti­schen Fra­gen ein­her: Ist es über­haupt die Sache der Staats­macht, jenen ein Denk­mal zu errich­ten, die sie ja selbst umge­bracht hat?

Ein klei­ner Aus­schnitt des Mos­kauer Archivs von „Memorial“

Heute, über drei­ßig Jahre spä­ter, ver­fügt das Expert*innenteam von “Memo­rial” nicht nur über eine sehr gute Exper­tise in Bezug auf his­to­ri­sche und sozi­al­wis­sen­schaft­li­che Auf­ar­bei­tung der sowje­ti­schen Geschichte, son­dern auch über ein­zig­ar­tige Archiv– und Infor­ma­ti­ons­be­stände, umfas­sende Daten­ban­ken mit Namen der Opfer, Museen und Biblio­the­ken zum Thema poli­ti­sche Repres­sion in der Sowjet­union. Dabei ist die Arbeit alles andere als vollendet.

Nach vor­läu­fi­gen Schät­zun­gen von „Memo­rial“ wur­den wäh­rend Sta­lins Herr­schaft etwa 5 Mil­lio­nen Men­schen allein auf­grund ein­zel­ner poli­ti­scher Anschul­di­gun­gen ver­haf­tet und min­des­tens eine Mil­lion von ihnen erschos­sen; viele wei­tere kamen in den Lagern um.

Was wird nun aus die­sem so wert­vol­len und wich­ti­gen Archiv­be­stand? Was wird aus den Doku­men­ten, Recher­chen und Zeitzeugengesprächen?

A.S.: Das Archiv ist im Augen­blick stark bedroht! Es gab meh­rere Durch­su­chun­gen in den Gebäu­den von “Memo­rial.” Es wur­den Fest­plat­ten, Com­pu­ter und Rech­ner beschlag­nahmt. Mitt­ler­weile ist fast alles wie­der zurück gege­ben wor­den, ohne dass es aber den­noch in Sicher­heit wäre. D.h. auch eine Digi­ta­li­sie­rung bedeu­tet nicht unbe­dingt eine Siche­rung. Vie­les kann man auch nicht wirk­lich digi­ta­li­sie­ren. Es han­delt sich schließ­lich nicht nur um Akten, son­dern auch um eine rie­sige Biblio­thek und sehr viele Gegen­stände, die noch aus den sowje­ti­schen Lagern stam­men. Viele Räume sind nicht mehr benutz­bar, Bank­kon­ten wur­den gesperrt.

Wie rea­gie­ren die Mitarbeiter*innen von “Memo­rial” Mos­kau darauf?

A.S.: Die Ent­schei­dung, die zunächst erst ein­mal in Mos­kau getrof­fen wurde, lau­tet: Wir wol­len nicht, dass das Archiv ins Aus­land gebracht wird, obwohl es uns bewusst ist, dass dies der sicherste Weg wäre. Man sagt, wir haben dies alles immer für das Volk Russ­lands gesam­melt, für das natio­nale Erin­nern. Wir wol­len, dass die­ses Archiv hier­bleibt. Das ist eine, man könnte sagen, eine sehr erha­bene, patrio­ti­sche Haltung.

Haben sie denn im Augen­blick über­haupt noch Zugang zu den Räu­men von “Memo­rial”? Haben sie noch Zugriff zum Archiv?

A.S.: Ich meine, einige haben ihn noch, aber ich bin mir nicht sicher. “Memo­rial” hat meh­rere Räume. Wie genau der­zeit die Ret­tung des Archivs aus­sieht, kann ich nicht sagen. Ich bin mir aber sicher, dass die ehe­ma­li­gen Mit­ar­bei­ter von „Memo­rial“ alles dafür tun, um seine Bestände zu ret­ten, das sind immer­hin Bestände aus vie­len Jahr­zehn­ten einer uner­müd­li­chen Arbeit. Wenn es ver­lo­ren geht, wäre das eine kul­tu­relle Katastrophe.

Das wäre in der Tat nach über 30 Jah­ren Arbeit an die­ser The­ma­tik sehr, sehr bitter.

A.S.: Es sind Akten von Häft­lin­gen, Akten von vie­len, vie­len, vie­len tau­send Men­schen, zum Teil sehr volle Akten, d.h. aus meh­re­ren Bän­den beste­hende Akten, z.T. nur einige wenige Doku­mente, das ist je nach Per­son sehr unterschiedlich. 

Kann es denn sein, dass auf die­ser Grund­lage noch Straf­ver­fah­ren ange­strengt wer­den, wenn die Akten in die Hände der rus­si­schen Regie­rung oder der Staats­an­walt­schaft fallen?

A.S.: Unsere Phan­ta­sie wird täg­lich über­trof­fen. Wir müs­sen aller­dings beden­ken: Die meis­ten Akten sind aus weit zurück­lie­gen­den Zei­ten; diese Men­schen leben nicht mehr. Aller­dings befin­den sich in die­sem rie­si­gen Archiv nicht nur Akten in Bezug auf Staats­ver­bre­chen in der Sowjet­union, son­dern im Archiv des Men­schen­rechts­zen­trums von “Memo­rial” geht es auch um die poli­ti­sche Ver­fol­gung unter Putin, in Bezug auf die Tsche­tsche­ni­en­kriege und es betrifft auch viele Ver­fah­ren gegen Anders­den­kende, gegen Oppo­si­tio­nelle. Da kann ich mir durch­aus vor­stel­len, sol­che Mate­ria­lien könn­ten theo­re­tisch wie­der ver­wen­det werden.

Sie sind per­sön­lich in beson­de­rer Weise mit “Memo­rial” ver­bun­den. Wie ent­stand dies?

A.S.: Bei den Vor­ar­bei­ten zu mei­ner Dis­ser­ta­tion zum Thema „Gesell­schaft­li­ches Selbst­be­wusst­sein und poli­ti­sche Kul­tur im post­so­wje­ti­schen Russ­land“ habe ich in St. Peters­burg ca. 2002/2003 Ver­tre­ter von “Memo­rial” ken­nen­ge­lernt. Damals habe ich vor allem viel zum zwei­ten Tsche­tsche­ni­en­krieg gear­bei­tet. “Memo­rial” war in die­ser Zeit fast die ein­zige Mög­lich­keit, die Ereig­nisse in Tsche­tsche­nien tat­säch­lich ver­fol­gen zu kön­nen. Danach habe ich an ver­schie­de­nen ande­ren Pro­jek­ten mit­ge­ar­bei­tet und bin auch, da ich in Deutsch­land meine Dok­tor­ar­beit geschrie­ben habe, “Memo­rial Deutsch­land” beige­tre­ten; es gibt ja eine Zweig­stelle in Berlin.

Ich möchte abschlie­ßend noch nach ein­zel­nen prä­gen­den Per­sön­lich­kei­ten von “Memo­rial” fra­gen. Ich weiß, dass wir dies im Augen­blick nur vor­sich­tig bespre­chen kön­nen. Den­noch die Frage: Wen möch­ten Sie erwähnen?

A.S.: Gerne möchte vor allem einige aus der Grün­der­ge­ne­ra­tion erwäh­nen. Am bekann­tes­ten ist in Deutsch­land sicher­lich Irina Scherba­kova. Sie ist öfters hier zu Gast und spricht sehr gut deutsch. Dann möchte ich natür­lich auch Alex­an­der Tscher­ka­sow und Oleg Orlov erwäh­nen. Zudem Boris Bel­en­kin; er ist der lang­jäh­rige Biblio­the­kar, der diese außer­or­dent­li­che Biblio­thek in Mos­kau zusam­men­ge­stellt und die ent­spre­chende Infra­struk­tur dafür auf­ge­baut hat. Inzwi­schen sind auch einige Jün­gere hin­zu­ge­kom­men, doch dies las­sen wir heute bes­ser beiseite.

Und dann gibt es natür­lich noch den Mit­be­grün­der und lang­jäh­ri­gen Vor­sit­zen­den Arsenij Rog­inskij

A.S.: Sicher, aber er ist lei­der 2017 ver­stor­ben. Rog­inskij war ein cha­ris­ma­ti­scher Mensch, zudem ein wich­ti­ger Ide­en­ge­ber, der auch zen­trale Texte für “Memo­rial” schrieb und sich dabei auch nicht scheute, sehr schwie­rige Fra­gen auf­zu­grei­fen — z.B. die Opfer-/Täterfrage. Dies war lange Zeit eine sehr schmerz­hafte Frage, weil man zunächst dachte, man kann dies so hand­ha­ben wie in Deutsch­land in Bezug auf das Nazi­re­gime, d.h. mit einer kla­ren Tren­nung zwi­schen Opfern und Tätern. Die Arbeit von “Memo­rial” zeigte aber, dass unter den Opfern auch viele Täter sind. Es pas­sierte nicht sel­ten, dass die­je­ni­gen, die jah­re­lang denun­ziert hat­ten, spä­ter selbst abge­holt wur­den. Das war ein sehr wich­ti­ger Befund; dar­über gab es hei­ßeste Dis­kus­sio­nen bei “Memo­rial.” Und Rog­inskij hat sich dafür ein­ge­setzt, dass das eben nicht nach dem deut­schen Modell behan­delt wird. Er hat die These ver­tre­ten, dass es kei­nen kla­ren Opfer­sta­tus gibt, ebenso wenig einen kla­ren Täter­sta­tus. Viel­mehr sei es gerade die Eigen­art des Staats­ter­rors unter Sta­lin und der Sowjet­union, dass so gut wie jeder ein Opfer wer­den konnte und es auch keine Anhalts­punkte gab sich davor zu schüt­zen. Kon­kret heißt das, man konnte sagen: Ich bin ein über­zeug­ter Anhän­ger von Sta­lin. Aber man lan­dete trotz­dem mög­li­cher­weise im sel­ben Gefäng­nis wie Men­schen, die man für Feinde Sta­lins hielt.

Gibt es dazu einen deutsch­spra­chi­gen Auf­satz, in dem dies genauer beleuch­tet wird?

A.S.: Ich kenne vor allem die rus­si­schen Texte; des­we­gen fällt mir die Ant­wort spon­tan nicht leicht. In dem Sam­mel­band „Steine des Ansto­ßes“ gehe ich z.B. in mei­nem Bei­trag zum Pro­jekt „Die letzte Adresse“, das auf einer Zusam­men­ar­beit mit „Memo­rial“ basierte, dar­auf ein.  

Zur­zeit ver­las­sen viele Intel­lek­tu­elle, viele Men­schen, die mit dem Krieg gegen die Ukraine und all sei­nen Fol­ge­wir­kun­gen nicht ein­ver­stan­den sind, Russ­land. Zäh­len dazu auch Mitarbeiter*innen von “Memo­rial”? Wohin gehen sie? Und unter wel­chen Umstän­den ist dies möglich?

A.S.: Zunächst muss uns bewusst sein, dass nach dem 24. Februar, als der Krieg aus­brach, der Luft­raum sofort geschlos­sen wurde. Es gibt jetzt vor allem vier Mög­lich­kei­ten aus­zu­rei­sen: nach Arme­nien und Geor­gien, man kann in die Tür­kei flie­gen (diese Flüge gehen noch) und man kann im Nor­den von St. Peters­burg oder Kare­lien Rich­tung Finn­land oder Est­land mit dem eige­nen Auto fah­ren, wenn man eines hat. Inso­fern ori­en­tier­ten sich die ers­ten Flucht­be­we­gun­gen nicht unbe­dingt daran, wo man hin möchte, son­dern daran, wo man über­haupt noch über die Grenze kann kann. Die Frage ist natür­lich auch, ob man ein Schen­gen­vi­sum oder einen Aus­lands­pass hat oder nicht. Etwa 80% der Rus­sen haben kei­nen Aus­lands­pass. Dann kann man nur nach Kir­gis­tan fah­ren, die­ser Weg wurde mehr­heit­lich benutzt, um dann wei­ter zu reisen.

Kann man jetzt noch einen Aus­lands­pass beantragen?

So ein­fach ist es nicht. Man braucht dafür eine Ein­la­dung oder muss eine Tour kau­fen. Bestimmte Län­der stel­len das für Tou­ris­ten aus Russ­land nicht mehr aus. Wie­derum andere Län­der haben inzwi­schen erkannt, dass die Posi­tion „Wir machen die Grenze dicht“ doch nicht rich­tig ist, weil es viele Oppo­si­tio­nelle gibt, die aus­rei­sen möch­ten und man muss ver­su­chen, die­sen Men­schen, wenn sie in Gefahr sind,  die Mög­lich­keit geben Russ­land zu verlassen.

 Ich bedanke mich sehr herz­lich für die­ses Gespräch. Es ist tief bedrü­ckend, was Sie schil­dern; daher ist es so wich­tig, diese Ver­hält­nisse und Zusam­men­hänge genau zu ken­nen, um sich ange­mes­sen enga­gie­ren zu kön­nen. Alles Gute Ihnen und vie­len Dank!

Die Fra­gen stellte Cor­ne­lia Rüh­lig, Vor­stand der Mar­git Hor­váth Stiftung.

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Das Logo des TV SendersDoschd
Das Logo des unab­hän­gi­gen TV Sen­ders Doschd. Kurz nach dem Angriff auf die Ukraine stell­ten sie ihr Pro­gramm ein und sen­den nun aus Georgien.

 

Der Chefredakteur von "Dosch", Tichon Dsjadko, sowie ein großer Teil der Mitarbeiter*innen verließ nun Russland."In Freiheit ist nützlicher als im Gefängnis," sagt er in der Tagesschau am 21. April 2022.
Der Chef­re­dak­teur von “Doschd”, Tichon Dsjadko, sowie ein gro­ßer Teil der Mitarbeiter*innen ver­ließ Russland.“In Frei­heit ist nütz­li­cher als im Gefäng­nis,” sagt er in der Tages­schau am 21. April 2022.

 

 

 

 

 

 

Irina Scherbekowa, Mitarbeiterin von „Memorial“, sagte 2018:“ Es sind jetzt schon mehr als 130 Organisationen zu „ausländischen Agenten“ erklärt. Dahinter steckt die Idee, das ganze unabhängige Spektrum zu liquidieren. Unsere Arbeit wird dadurch sehr viel schwieriger. Nun können wir sicher kaum noch mit staatlichen Organisationen wie Schulen, Archiven usw.  arbeiten. Sie werden Angst haben, den Kontakt zu uns zu suchen oder aufrecht zu halten. Wir sind jetzt Gebrandmarkte.“
Irina Scher­be­kowa, Vor­stands­mit­glied von „Memo­rial“, sagte 2018:“ Es sind jetzt schon mehr als 130 Orga­ni­sa­tio­nen zu „aus­län­di­schen Agen­ten“ erklärt. Dahin­ter steckt die Idee, das ganze unab­hän­gige Spek­trum zu liqui­die­ren. Unsere Arbeit wird dadurch sehr viel schwie­ri­ger. Nun kön­nen wir sicher kaum noch mit staat­li­chen Orga­ni­sa­tio­nen wie Schu­len, Archi­ven usw. arbei­ten. Sie wer­den Angst haben, den Kon­takt zu uns zu suchen oder auf­recht zu hal­ten. Wir sind jetzt Gebrandmarkte.“

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Kloster Solowezki und Lager für politische Gefangene. In den 1920er Jahren waren dort weit über 10.000 Menschen inhaftiert.
Klos­ter Solo­wezki und Lager für poli­ti­sche Gefan­gene. In den 1920er Jah­ren waren dort weit über 10.000 Men­schen inhaftiert.

 

Gulag Häftlinge zerkleinern Steine für den Weißmeer Kanal. Dieses Foto ist ein einzelnes, kleines Beispiel aus der insgesamt so umfangreichen Sammlung "Memorial."
Gulag Häft­linge zer­klei­nern Steine für den Weiß­meer Kanal. Die­ses Foto ist ein ein­zel­nes, klei­nes Bei­spiel aus der so umfang­rei­chen Samm­lung “Memorial.”

 

Eine Baracke des russischen Lagers Panyshevsky, aufgenommen im Oktober 1940
Eine Bara­cke des rus­si­schen Lagers Panyshevsky, auf­ge­nom­men im Okto­ber 1940

 

 

 

 

Die Dissertation von Dr. A. Schor Tschudnowskaja. In qualitativen Interviews mit jungen Menschen der ersten postsowjetischen Generation werden Deutungsmuster der gegenwärtigen politischen Kultur in Russland sichtbar. In Anlehnung an die Theorien des „Eigenen“ und „Fremden“ aus der Psychologie, der Soziologie und der Demokratietheorie wird mit den gewonnenen Deutungsmustern der soziale Wandel nach 1991 und bis heute analysiert.
Die Dis­ser­ta­tion von Dr. A. Schor Tschud­now­skaja. (hrsg. 2011) In qua­li­ta­ti­ven Inter­views mit jun­gen Men­schen der ers­ten post­so­wje­ti­schen Gene­ra­tion wer­den Deu­tungs­mus­ter der gegen­wär­ti­gen poli­ti­schen Kul­tur in Russ­land sicht­bar. In Anleh­nung an die Theo­rien des „Eige­nen“ und „Frem­den“ aus der Psy­cho­lo­gie, der Sozio­lo­gie und der Demo­kra­ti­e­theo­rie wird der soziale Wan­del nach 1991 und bis heute analysiert.

 

 

Arsenij Roginskij um 1990. Eine Aufnahme aus der Zeit in der er in Moskau „Memorial“ mitbegründete. "Seit den 1970er Jahren hat er sich wie kaum ein zweiter um die Aufklärung der stalinistischen Verbrechen in der Sowjetunion verdient gemacht." A. Roginskij, der langjährige Vorsitzende von „Memorial“ prägte diese NGO svielleicht wie kein zweiter.
Arsenij Rog­inskij )1946 bis 2017). Eine Auf­nahme von 1990, d.h. aus der Zeit in der er in Mos­kau „Memo­rial“ mit­be­grün­dete. “Seit den 1970er Jah­ren hat er sich wie kaum ein zwei­ter um die Auf­klä­rung der sta­li­nis­ti­schen Ver­bre­chen in der Sowjet­union ver­dient gemacht.” A. Rog­inskij, der lang­jäh­rige Vor­sit­zende von „Memo­rial“ prägte diese NGO viel­leicht wie kein zweiter.

 

Boris Belenkin, derjenige, der die Bibliothek von "Memorial" Moskau aufbaute und prägte.
Boris Bel­en­kin, der­je­nige, der die Biblio­thek von “Memo­rial” Mos­kau auf­baute und prägte.

 

Oleg Orlow (geb. 1953 in Moskau), auch er ist einer der jahrelang prägenden Mitbegründer von „Memorial“. Seit vielen Jahren leitet er das Rechtszentrum der Menschenrechtsorganisation.
Oleg Orlow (geb. 1953 in Mos­kau), auch er ist einer der jah­re­lang prä­gen­den Mit­be­grün­der von „Memo­rial“. Seit vie­len Jah­ren lei­tet er das Rechts­zen­trum der Menschenrechtsorganisation.