Zur Lage in Russland: NGOs und Medien in dem semi-totalitären Regime von Waldimir Putin
Fortsetzung
Erst kürzlich wurden wieder zahlreiche Organisationen verboten. Was warf man ihnen vor?
A.S.: Vorgeworfen wurden sehr allgemein Verstöße gegen die geltende Gesetzgebung der Russischen Föderation. Anfang März wurde der bekannte Radiosender „Echo Moskwy“ und dann der unabhängige, private Internet-Fernsehsender „Doschd“ verboten, Anfang April 15 Nichtregierungsorganisationen – unter anderem die Heinrich-Böll-Stiftung, Friedrich-Ebert-Stiftung, Konrad-Adenauer-Stiftung, Friedrich-Naumann-Stiftung, aber auch die Menschenrechtsorganisationen Amnesty International und Human Rights Watch.
Was bedeutet das Verbot so vieler NGOs zum gegenwärtigen Zeitpunkt?
A.S.: Gravierendes. Mit der Invasion in die Ukraine und den illegalen Angriffen auf die Zivilbevölkerung hat sich die russische Führung endgültig von den Regeln des Völkerrechts verabschiedet, ja eigentlich von dem Recht als solchem. Mit dem Verbot dieser NGOs beansprucht sie nun auch nach innen die alleinige Deutungshoheit über Geschichte und Gegenwart des Landes.
Gibt es jetzt überhaupt noch unabhängige Medien in Russland?
A.S.: Nein. Eigentlich nicht. Wir müssen uns aber darauf verständigen, was unabhängige Medien heißt. Seit dieser Anordnung, dass der Krieg nicht als Krieg bezeichnet werden darf und dass die Zahl der Gefallenen nicht genannt werden darf, halten sich alle Medien daran. Alle. Selbst wenn sie insgeheim oppositionell gestimmt sind.
Sie selbst arbeiten seit vielen Jahre mit „Memorial“ zusammen. Motiv dieser in Russland 1989 gegründeten Organisation ist es Menschenrechtsverletzungen in Vergangenheit und Gegenwart zu dokumentieren, dieses Wissen zu vermitteln und sich um die Opfer politischer Verfolgung zu kümmern. Bereits im Dezember des vergangenen Jahres wurde diese international sehr geachtete und mehrfach ausgezeichnete NGO verboten; im Februar d.J. wurde dies gerichtlich bestätigt. Sehen Sie einen Zusammenhang zwischen diesem Verbot und dem Beginn des Krieges gegen die Ukraine nur zwei Monate später?
A.S: Im Nachhinein lässt sich durchaus mutmaßen, dass bereits im Vorfeld des Angriffes auf die Ukraine “Memorial”, d.h. eine wichtige oppositionelle Stimme im Land, mundtot gemacht werden sollte. Man muss aber zudem wissen, dass Russlands Staatsführung auch schon in früheren Jahren viel unternommen hat, um die Arbeit von “Memorial” zu diskreditieren. Besonders gravierend war ein Gesetz, das im November 2012 in Kraft trat; es betraf die Arbeit sogenannter „ausländischer Agenten“ in NGOs. Schnell wurde klar, dass diese Gesetzgebung eine Offensive gegen alle zivilgesellschaftlichen Initiativen bedeutete.
Was heißt konkret der Vorwurf „ausländischer Agenten“?
A.S.: Das ist nicht eindeutig. Das Gesetz von 2012 wurde immer wieder nachgeschärft. Auch jetzt erwarten wir wieder eine neue Version. Ich möchte Folgendes vorab noch ergänzen: Bereits vor 2012 gab es eine staatliche Kampagne, in der es hieß, die Zivilgesellschaft in Russland sei ein „Manöver“ des Westens, d.h. aus dem Westen gelenkt. Das etablierte das Deutungsmuster: Opposition kann per se nicht aufrichtig sein. So etwas wie einen aufrichtigen Protest gibt es nicht. Mit dem Gesetz von 2012 hat dies eine Struktur bekommen. Zunächst zielte man nur auf NGOs, denen man „politische Tätigkeiten“ nachweisen konnte und die (wenigstens teilweise) aus dem Ausland finanziert werden. Später betraf das Gesetz nun auch (oppositionelle) Medien und (unabhängige) Forschungseinrichtungen, schließlich wurde es auch auf Privatpersonen ausgeweitet. D.h. wenn man einem Einzelnen nachweisen kann, dass er z. B. für einen Vortrag oder ein Forschungsprojekt vom Ausland Geld erhält, ist er schon potentiell ein „ausländischer Agent“.
Und es kam hinzu, dass „ausländische Agenten“ in der öffentlichen Wahrnehmung tendenziell als Verräter verstanden werden. Gemeint ist nicht Verrat an Putin, sondern: Verrat an der Heimat, Verrat am Volk. Es muss nun jede Publikation und jede öffentliche Meinungsäußerung als Meinungsäußerung eines „ausländischen Agenten“ deklariert werden. D.h. wenn Sie auf Facebook etwas posten, sind Sie verpflichtet, nicht einmal, sondern bei jedem Post darauf hinzuweisen, dass dieser Kommentar, dieser Like oder auch nur eine Weiterleitung von einem „ausländischen Agenten“ kommt. Tatsächlich kann man mit diesem Gesetz so gut wie jeden ins Gefängnis bringen. Die Deutungshoheit, wer „ausländischer Agent“ ist, liegt einzig und allein beim russischen Staat. Dieses Gesetz wurde auch als Argument für die Schließung von „Memorial“ benutzt. Am 28. und 29. Dezember 2021 wurden in Moskau die entsprechenden Urteile gefällt. Das Oberste Gericht Russlands hat diese Urteile im Februar d.J. bestätigt.
Ich möchte Sie bitten, wenigstens kurz zu schildern wie, wann und warum diese zivilgesellschaftliche Organisation “Memorial” entstand.
A.S.: “Memorial” entstand bereits 1987 im Zuge der Perestrojka, in den letzten Jahren der Sowjetunion unter Michail Gorbatschow. D.h. „Memorial“ ist ein wichtiges Produkt des damals noch sowjetischen, machtkritischen Diskurses. Es war im Grunde eine spontane Bewegung, die gleichzeitig in mehreren Städten entstand, zunächst nur eine informelle Vereinigung von Gleichgesinnten, die die neuen Freiheiten aufgriffen. Den offiziellen Namen „Gesellschaft ‚Memorial‘“ gibt es seit Januar 1989.
Das russische Wort „Memorial“ bedeutet „Denkmal“ oder „Gedenkort“. Anfangs ging es tatsächlich um ein konkretes Denkmal für die Opfer von politischen Repressionen. Dieses damals staatlich initiierte Projekt sollte eine wichtige symbolische Vollendung des grundlegenden politischen Umgestaltungsprozesses („Perestrojka“ bedeutet Umbau) darstellen.
Doch die “Memorial”-Initiative wollte sich sehr bald nicht mehr nur ausschließlich mit dem Denkmal beschäftigen. Ihr Interesse war es zu gedenken und dies zog unweigerlich weitere prinzipielle Fragen nach sich: Wer waren die Opfer und wie viele waren es? Warum gab es so viele? Wer waren die Täter? Wie und wo findet man ihre Namen?
Die Antworten auf diese Fragen mussten erst gefunden werden. So verschob sich die Tätigkeit von Memorial zunehmend in Richtung Recherche– und Archivarbeit, „oral history“ und historische Expertise. Bemerkenswert ist die damit verbundene Veränderung im Selbstbewusstsein der Aktivisten dieser damals noch jungen Bewegung und so auch der Ziele. Ging es ihnen zunächst um die Durchsetzung beziehungsweise Vollendung einer staatlichen Initiative zum Andenken an die Opfer des Staatsterrors unter Stalin, artikulierten sich ab circa 1988 zunehmend Zweifel an diesem eng gefassten Ziel. Diese Zweifel gingen mit vorsichtigen machtkritischen Fragen einher: Ist es überhaupt die Sache der Staatsmacht, jenen ein Denkmal zu errichten, die sie ja selbst umgebracht hat?
Heute, über dreißig Jahre später, verfügt das Expert*innenteam von “Memorial” nicht nur über eine sehr gute Expertise in Bezug auf historische und sozialwissenschaftliche Aufarbeitung der sowjetischen Geschichte, sondern auch über einzigartige Archiv– und Informationsbestände, umfassende Datenbanken mit Namen der Opfer, Museen und Bibliotheken zum Thema politische Repression in der Sowjetunion. Dabei ist die Arbeit alles andere als vollendet.
Nach vorläufigen Schätzungen von „Memorial“ wurden während Stalins Herrschaft etwa 5 Millionen Menschen allein aufgrund einzelner politischer Anschuldigungen verhaftet und mindestens eine Million von ihnen erschossen; viele weitere kamen in den Lagern um.
Was wird nun aus diesem so wertvollen und wichtigen Archivbestand? Was wird aus den Dokumenten, Recherchen und Zeitzeugengesprächen?
A.S.: Das Archiv ist im Augenblick stark bedroht! Es gab mehrere Durchsuchungen in den Gebäuden von “Memorial.” Es wurden Festplatten, Computer und Rechner beschlagnahmt. Mittlerweile ist fast alles wieder zurück gegeben worden, ohne dass es aber dennoch in Sicherheit wäre. D.h. auch eine Digitalisierung bedeutet nicht unbedingt eine Sicherung. Vieles kann man auch nicht wirklich digitalisieren. Es handelt sich schließlich nicht nur um Akten, sondern auch um eine riesige Bibliothek und sehr viele Gegenstände, die noch aus den sowjetischen Lagern stammen. Viele Räume sind nicht mehr benutzbar, Bankkonten wurden gesperrt.
Wie reagieren die Mitarbeiter*innen von “Memorial” Moskau darauf?
A.S.: Die Entscheidung, die zunächst erst einmal in Moskau getroffen wurde, lautet: Wir wollen nicht, dass das Archiv ins Ausland gebracht wird, obwohl es uns bewusst ist, dass dies der sicherste Weg wäre. Man sagt, wir haben dies alles immer für das Volk Russlands gesammelt, für das nationale Erinnern. Wir wollen, dass dieses Archiv hierbleibt. Das ist eine, man könnte sagen, eine sehr erhabene, patriotische Haltung.
Haben sie denn im Augenblick überhaupt noch Zugang zu den Räumen von “Memorial”? Haben sie noch Zugriff zum Archiv?
A.S.: Ich meine, einige haben ihn noch, aber ich bin mir nicht sicher. “Memorial” hat mehrere Räume. Wie genau derzeit die Rettung des Archivs aussieht, kann ich nicht sagen. Ich bin mir aber sicher, dass die ehemaligen Mitarbeiter von „Memorial“ alles dafür tun, um seine Bestände zu retten, das sind immerhin Bestände aus vielen Jahrzehnten einer unermüdlichen Arbeit. Wenn es verloren geht, wäre das eine kulturelle Katastrophe.
Das wäre in der Tat nach über 30 Jahren Arbeit an dieser Thematik sehr, sehr bitter.
A.S.: Es sind Akten von Häftlingen, Akten von vielen, vielen, vielen tausend Menschen, zum Teil sehr volle Akten, d.h. aus mehreren Bänden bestehende Akten, z.T. nur einige wenige Dokumente, das ist je nach Person sehr unterschiedlich.
Kann es denn sein, dass auf dieser Grundlage noch Strafverfahren angestrengt werden, wenn die Akten in die Hände der russischen Regierung oder der Staatsanwaltschaft fallen?
A.S.: Unsere Phantasie wird täglich übertroffen. Wir müssen allerdings bedenken: Die meisten Akten sind aus weit zurückliegenden Zeiten; diese Menschen leben nicht mehr. Allerdings befinden sich in diesem riesigen Archiv nicht nur Akten in Bezug auf Staatsverbrechen in der Sowjetunion, sondern im Archiv des Menschenrechtszentrums von “Memorial” geht es auch um die politische Verfolgung unter Putin, in Bezug auf die Tschetschenienkriege und es betrifft auch viele Verfahren gegen Andersdenkende, gegen Oppositionelle. Da kann ich mir durchaus vorstellen, solche Materialien könnten theoretisch wieder verwendet werden.
Sie sind persönlich in besonderer Weise mit “Memorial” verbunden. Wie entstand dies?
A.S.: Bei den Vorarbeiten zu meiner Dissertation zum Thema „Gesellschaftliches Selbstbewusstsein und politische Kultur im postsowjetischen Russland“ habe ich in St. Petersburg ca. 2002/2003 Vertreter von “Memorial” kennengelernt. Damals habe ich vor allem viel zum zweiten Tschetschenienkrieg gearbeitet. “Memorial” war in dieser Zeit fast die einzige Möglichkeit, die Ereignisse in Tschetschenien tatsächlich verfolgen zu können. Danach habe ich an verschiedenen anderen Projekten mitgearbeitet und bin auch, da ich in Deutschland meine Doktorarbeit geschrieben habe, “Memorial Deutschland” beigetreten; es gibt ja eine Zweigstelle in Berlin.
Ich möchte abschließend noch nach einzelnen prägenden Persönlichkeiten von “Memorial” fragen. Ich weiß, dass wir dies im Augenblick nur vorsichtig besprechen können. Dennoch die Frage: Wen möchten Sie erwähnen?
A.S.: Gerne möchte vor allem einige aus der Gründergeneration erwähnen. Am bekanntesten ist in Deutschland sicherlich Irina Scherbakova. Sie ist öfters hier zu Gast und spricht sehr gut deutsch. Dann möchte ich natürlich auch Alexander Tscherkasow und Oleg Orlov erwähnen. Zudem Boris Belenkin; er ist der langjährige Bibliothekar, der diese außerordentliche Bibliothek in Moskau zusammengestellt und die entsprechende Infrastruktur dafür aufgebaut hat. Inzwischen sind auch einige Jüngere hinzugekommen, doch dies lassen wir heute besser beiseite.
Und dann gibt es natürlich noch den Mitbegründer und langjährigen Vorsitzenden Arsenij Roginskij
A.S.: Sicher, aber er ist leider 2017 verstorben. Roginskij war ein charismatischer Mensch, zudem ein wichtiger Ideengeber, der auch zentrale Texte für “Memorial” schrieb und sich dabei auch nicht scheute, sehr schwierige Fragen aufzugreifen — z.B. die Opfer-/Täterfrage. Dies war lange Zeit eine sehr schmerzhafte Frage, weil man zunächst dachte, man kann dies so handhaben wie in Deutschland in Bezug auf das Naziregime, d.h. mit einer klaren Trennung zwischen Opfern und Tätern. Die Arbeit von “Memorial” zeigte aber, dass unter den Opfern auch viele Täter sind. Es passierte nicht selten, dass diejenigen, die jahrelang denunziert hatten, später selbst abgeholt wurden. Das war ein sehr wichtiger Befund; darüber gab es heißeste Diskussionen bei “Memorial.” Und Roginskij hat sich dafür eingesetzt, dass das eben nicht nach dem deutschen Modell behandelt wird. Er hat die These vertreten, dass es keinen klaren Opferstatus gibt, ebenso wenig einen klaren Täterstatus. Vielmehr sei es gerade die Eigenart des Staatsterrors unter Stalin und der Sowjetunion, dass so gut wie jeder ein Opfer werden konnte und es auch keine Anhaltspunkte gab sich davor zu schützen. Konkret heißt das, man konnte sagen: Ich bin ein überzeugter Anhänger von Stalin. Aber man landete trotzdem möglicherweise im selben Gefängnis wie Menschen, die man für Feinde Stalins hielt.
Gibt es dazu einen deutschsprachigen Aufsatz, in dem dies genauer beleuchtet wird?
A.S.: Ich kenne vor allem die russischen Texte; deswegen fällt mir die Antwort spontan nicht leicht. In dem Sammelband „Steine des Anstoßes“ gehe ich z.B. in meinem Beitrag zum Projekt „Die letzte Adresse“, das auf einer Zusammenarbeit mit „Memorial“ basierte, darauf ein.
Zurzeit verlassen viele Intellektuelle, viele Menschen, die mit dem Krieg gegen die Ukraine und all seinen Folgewirkungen nicht einverstanden sind, Russland. Zählen dazu auch Mitarbeiter*innen von “Memorial”? Wohin gehen sie? Und unter welchen Umständen ist dies möglich?
A.S.: Zunächst muss uns bewusst sein, dass nach dem 24. Februar, als der Krieg ausbrach, der Luftraum sofort geschlossen wurde. Es gibt jetzt vor allem vier Möglichkeiten auszureisen: nach Armenien und Georgien, man kann in die Türkei fliegen (diese Flüge gehen noch) und man kann im Norden von St. Petersburg oder Karelien Richtung Finnland oder Estland mit dem eigenen Auto fahren, wenn man eines hat. Insofern orientierten sich die ersten Fluchtbewegungen nicht unbedingt daran, wo man hin möchte, sondern daran, wo man überhaupt noch über die Grenze kann kann. Die Frage ist natürlich auch, ob man ein Schengenvisum oder einen Auslandspass hat oder nicht. Etwa 80% der Russen haben keinen Auslandspass. Dann kann man nur nach Kirgistan fahren, dieser Weg wurde mehrheitlich benutzt, um dann weiter zu reisen.
Kann man jetzt noch einen Auslandspass beantragen?
So einfach ist es nicht. Man braucht dafür eine Einladung oder muss eine Tour kaufen. Bestimmte Länder stellen das für Touristen aus Russland nicht mehr aus. Wiederum andere Länder haben inzwischen erkannt, dass die Position „Wir machen die Grenze dicht“ doch nicht richtig ist, weil es viele Oppositionelle gibt, die ausreisen möchten und man muss versuchen, diesen Menschen, wenn sie in Gefahr sind, die Möglichkeit geben Russland zu verlassen.
Ich bedanke mich sehr herzlich für dieses Gespräch. Es ist tief bedrückend, was Sie schildern; daher ist es so wichtig, diese Verhältnisse und Zusammenhänge genau zu kennen, um sich angemessen engagieren zu können. Alles Gute Ihnen und vielen Dank!
Die Fragen stellte Cornelia Rühlig, Vorstand der Margit Horváth Stiftung.
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